Wohlfahrt

TeufelsinselCoverAbkl

In Zukunft kümmert sich der Wohlfahrtsausschuss um politische Verbrecher, die mehr als 50000 Todesopfer auf dem Gewissen haben. Sie werden lebenslang auf einer mobilen Insel interniert, wo sie ihren alten Machtträumen und Wahnvorstellungen nachhängen können, ohne jemandem zu schaden. Thomas Weber, ein Journalist, der früher Polizist war, besucht die Teufelinsel im Auftrag des Wohlfahrtsausschusses. Eine Artikelserie über die Insel und die Gefangenen: Das ist der Auftrag. Aber die Probleme und Seltsamkeiten beginnen schon, bevor er ein Wort geschrieben hat.

Die ersten vierzehn Minuten zum Hören.

Mit einem Nachwort von Michael Raffel, Edition J.J. Heckenhauer, Tübingen, 2020, ISBN 978-3-9821851-2-5, 72 Seiten, 12 Euro

Celsius

halle

Check mal deine Privilegien.

Bei zu großer Hitze in das Kloster flüchten, wo jetzt keine Mönche flüstern, sondern Kunstwerke. In den leeren Hallen bin ich einer von zwei Besuchern. Das Klicken meines Kameraverschlusses hallt durch die Säle. Die Aufseher, die immer mal wieder nachschauen, ob ich etwa Unfug treibe, nicken mir reserviert-freundlich zu. "Schau mich an", sagt die Installation. "Nein, mich", sagt das Bild daneben. Ich schaue euch überhaupt nicht an, ich fotografiere euch nur.

Stimmt ja nicht. Will schon genauer hinsehen. Bei einem Kunstwerk muss ich prüfen, ob mein Ersteindruck wahr gewesen sein kann. Ja, aus der Fotowand mit lauter "Bewerbern" schaut mich ein bekanntes Gesicht von früher an. Einer aus Tübingen, der dann Journalist wurde. Und ich entdecke jetzt einen sehr jungen Roger Willemsen. Wenn du nur der bist, der du bist, wer bist du dann schon? Jedes Personalausweisfoto ein kompletter Irrsinn.

So viele andere schöne Sachen. Das Telefon Nr. 5 von Ruth Francken tut es mir an. Es stammt aus dem Jahr 1967, wie ich.

In Museen sind mir immer auch die Dinge wichtig, die keine Bedeutung haben. Wie zum Beispiel ein Doppelfenster, mit Papier überklebt, weil das besseres Licht gibt.

gang

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Scheine oben, Münzen unten

Ja was denn für ein Hund?

Am Ziel- und Endbahnhof –
wie verformt bist du denn?

Der Wille deiner Schultern
im Falterflattern der LEDs,
am stillen Konferenztisch,
vor Bildschirmen, fast so scharf
wie dein bester Dauerschmerz.

Was geht?

Ein guter Hund sollst du sein.
Dass der Schlüssel immer
zur Rezeption muss,
denk dran.

Tonaufnahme [MP3]

Just like the old times

Da stehen sie dann, die Naziglatzen, drei oder vier, zusammen mit ihrem weiblichen Anhang. Aus den halb geöffneten Bomberjacken leuchtet irgendwas mit Deutschland hervor, in Fraktur natürlich. Die jungen, bleichen Schädel stehen wie Pilze im blaugrauen Gewitternachmittag. Maskengesichter, stumpf und dumpf, in den Neunzigern eingelagert und jetzt von einer neuen Generation wieder hervorgeholt. Noch wirken sie nicht ganz sicher in der Nachahmung ihrer Väter, aber der Wille ist klar erkennbar.

Juten Tach

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Es ist schon ein Abenteuer, sich zum Anleger durchzukämpfen. Magdeburg-Buckau hat einen Ruf zu verteidigen, und das tut es. Ein Dschungel, in dem dein Verstand und deine Machete rasiermesserscharf sein müssen. So ist das mit den Städten ganz am Rande der Zivilisation – sie werden stärker von der Wildnis geprägt als sie wahrhaben wollen. Wenn du dich bis in die erste Reihe durchmogeln kannst, hast du Chancen, mitgenommen zu werden. Keine guten, aber immerhin. Du bist umgeben von fragwürdigen Gestalten, Vorsicht ist geboten. Das Glück lacht dir – kaum ist die verrostete Rampe mit lautem Knall auf dem bröckeligen Beton des Anlegers aufgeschlagen, wirst du durchgewunken. Sofort ist wieder Schluss mit dem Boarding, und es entwickelt sich kurz eine Schlägerei, aber das betrifft dich schon nicht mehr. Das winzige Boot, mit dem du übersetzen willst, hat bessere Tage gesehen; man könnte meinen, es erinnert sich nicht einmal an diese Zeiten. Der Geruch nach Diesel und Männerschweiß. War das eine gute Idee? Zu spät, das Gefährt legt ab. Und dann befährst du ihn, den Sambesi Sachsen-Anhalts. Angeblich ist er hier gar nicht so breit, aber das täuscht, wie du weißt. Die jovialen und handfesten Matrosen gehen auf in ihrer Routine, sie kennen das Gewässer, sie kennen ihre Kunden. Einer von ihnen sagt "Juten Tach" und kontrolliert die Fahrkarten. Alle können sich legitimieren, keiner geht über Bord. Das Gestampfe und Gestrampel der altersschwachen Schiffsmaschine weicht einem ruhigeren Rhythmus. Flussdelphine begleiten die Fähre, sie werden mit Fischabfällen gefüttert. Kanus mit Eingeborenen treiben vorbei; die Matrosen haben euch eingeschärft, den Blickkontakt zu meiden. Einst war dieser mächtige Fluss breit wie ein Meer, aber der Regen kommt nicht mehr, schon lange nicht. Dennoch, Stunde um Stunde dauert die Fahrt. Eingelullt von Dieseldunst, Maschinengetucker und dem Schaukeln des Schiffchens dämmerst du weg, und als du aufschreckst, ist es bereits in Griffweite: das wildnisseitige Sambesi-Ufer. Die Fähre rumpelt und knarzt an dem wackeligen Anleger entlang, dass dir noch einmal auf dem Boot bange wird. Die Rampe knallt runter, du verabschiedest und bedankst dich, mitten in das schief-mitleidige Lächeln der Matrosen hinein. Ein letzter Gruß der Zivilisation: Auf dem verfallenen, lang schon nicht mehr benutzten Fahrkartenbüdchen steht noch gut lesbar "Überfahrt", in einer Schrifttype, die vor hundert Jahren modern war. Dann verschluckt dich das undurchdringliche Grün.

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