Dann und dann
31/08/25 13:01

Als Kindergartenkind lernte ich: Wolken sind Uhren. Sie ziehen dahin und nehmen die Zeit mit. Noch zwei Monate hier.
1967
30/08/25 11:25
Ich weiß nicht, warum mich dieses eine elektronische Musikstück so intensiv an meine Mutter denken lässt, an ihren Zustand. Vielleicht zeigen die schwebenden Synthesizer-Klänge zu einer Zeit zurück, als sie jung war. Als ich zur Welt kam. Aber von elektronischer Musik hat sie damals nichts mitbekommen. 1967, BRD, Saarland. Der unselige Kurt Georg Kiesinger ist Kanzler, während gesellschaftlich die Umbrüche in vollem Gang sind, die 1969 Willy Brandt an die Macht bringen werden. Im Saarland herrscht der ewige Ministerpräsident Franz Josef Röder (CDU), dessen Nazi-Verwicklungen 1960 nur einmal kurz aufgeblitzt waren und dann erst lange nach denen von Kiesinger thematisiert werden sollten. Im September 1967 ist der große Marsch schon in Vorbereitung, der am 21.10. zum Pentagon führt, des Vietnamkriegs wegen. Meine Mutter im ländlichen Saarland, mit ihrer jungen Ehe und ihren beiden Kindern. Auf dem Weg zu einem Berufsleben als Grundschullehrerin. Schwer katholisch. Ein bisschen Schlager, ein bisschen Klassik und Kirchenlieder. Keine elektronische Musik.
Sie erkennt mich am Telefon noch, aber ich muss ihr immer wieder von neuem erzählen, dass ich in Magdeburg bin, Stadtschreiber, ja, eine eigene Wohnung hat mir die Stadt auch zur Verfügung gestellt. Für sieben Monate, ja. Sie spricht von einer entfernten Tante, die aus der DDR stammte und zeitlebens nichts auf das andere Deutschland kommen ließ. Auch ihr Mann habe mir ihr darüber nicht sprechen können, sie sei nun einmal überzeugt gewesen. Meine Mutter fragt mich, wie die Menschen in der DDR jetzt so leben. Ich erkläre ihr, dass die DDR seit 35 Jahren nicht mehr existiert. „Ach so, ja.“ Zwei Sätze später ihre dringende Bitte, dass ich kein DDR-Schriftsteller werde. Ich kann ihr das guten Gewissens zusagen.
Dann erklärt sie, dass mein Vater bald kommt, um sie abzuholen. „Bestimmt“, bestätige ich. Er ist seit zwölf Jahren tot. Ich musste einsehen, dass es grausam wäre, sie immer wieder daran zu erinnern.
Dann ist sie müde und wir verabschieden uns.
[Das Blatt Periodisch aus meinem Adventskalender 2023 ist zu ästhetisch.]
Sie erkennt mich am Telefon noch, aber ich muss ihr immer wieder von neuem erzählen, dass ich in Magdeburg bin, Stadtschreiber, ja, eine eigene Wohnung hat mir die Stadt auch zur Verfügung gestellt. Für sieben Monate, ja. Sie spricht von einer entfernten Tante, die aus der DDR stammte und zeitlebens nichts auf das andere Deutschland kommen ließ. Auch ihr Mann habe mir ihr darüber nicht sprechen können, sie sei nun einmal überzeugt gewesen. Meine Mutter fragt mich, wie die Menschen in der DDR jetzt so leben. Ich erkläre ihr, dass die DDR seit 35 Jahren nicht mehr existiert. „Ach so, ja.“ Zwei Sätze später ihre dringende Bitte, dass ich kein DDR-Schriftsteller werde. Ich kann ihr das guten Gewissens zusagen.
Dann erklärt sie, dass mein Vater bald kommt, um sie abzuholen. „Bestimmt“, bestätige ich. Er ist seit zwölf Jahren tot. Ich musste einsehen, dass es grausam wäre, sie immer wieder daran zu erinnern.
Dann ist sie müde und wir verabschieden uns.
[Das Blatt Periodisch aus meinem Adventskalender 2023 ist zu ästhetisch.]
Fastversteck
25/08/25 18:36

Der Park ist so klein und verborgen, ich hielt ihn zuerst für eine Privatsache. Noch auf den Treppenstufen vom Fürstenwall herunter vermutete ich, gleich wieder zum Verlassen des Geländes aufgefordert zu werden. Was für ein seltsamer Ort. Ein bescheidenes Viereck, wie in den Boden der Stadt eingesunken, mit einer einzigen Sitzbank, ein paar Rosensträuchern, einem inaktiven Springbrunnen, einer massiven Eiche. Und einer Reihe von Nischen in der Fürstenwallmauer mit Statuen darin. Die alle kopflos sind. Fast eine surrealistische Installation. Vier Zugänge zum Areal: einer ebenerdig, eine Kopfsteinpflasterkurve vom Dom und vom Haus der Romanik herunter, die Treppe vom Fürstenwall, die ich genommen hatte, und eine weitere, neu, gut gepflegt, anscheinend ohne Funktion, weil sie bloß zu einem verschlossenen Gatter führt. Ich wunderte mich, fotografierte herum. Währenddessen kamen andere Touristen, genauso unsicher wie ich, ob man hier sein durfte. Fantastisch.
Zunächst wollte ich nichts über den Miniaturpark wissen. Alles schwer historisch, war ja klar, bei diesem schwer historischen Umfeld, ansonsten: egal. Ich kam nur immer wieder, hoffte jedes Mal mehr, dass die Bank frei und der Park leer sein würden, zum Schreiben gut. Schien zu klappen. Dann der Schreck: Schon bei der Annäherung hörte ich Rufen und Gelächter. Ein Publikum, eine Bühne. Fremde in meinem Park! Mir blieb nur die Kamera. Ich ahmte einen Pressefotografen nach, bemühte mich um den Anschein von Routine, machte ein paar Fotos von Bühne und Publikum, überstieg nonchalant das Flatterband der Absperrung zum Fürstenwall.
Mein Park war entzaubert, ich musste jetzt mehr über ihn erfahren. Also bekam ich zu lesen: War gar kein Park. Sondern der Garten der Möllenvogtei. Und er fing auch seine Karriere nicht als Garten an, sondern als – Hafen. Ein zwangsweise 1377 von Bürgern der Stadt Magdeburg für den damaligen Erzbischof (Peter Jelito) erbauter Hafen, denn der wollte einen Privatzugang zur Elbe haben. Das erklärt wahrscheinlich auch die abgesunkene Lage des Geländes. In seinem Westen: das einzige noch erhaltene Stadttor Magdeburgs, von 1493 oder 1495. 1520 schon war der Hafen ein Sumpf, 1632 von der Stadtmauer umschlossen, keine Verbindung zur Elbe mehr. In unmittelbarer Nähe auch zwei Türme: Kiek in de Köken und der Turm hinter der Ausfahrt der Möllenvogtei. Doch, die heißen beide wirklich so. Während der Hafen zwangsweise für Peter Jelito angelegt wurde, gingen die Türme dessen Nachfolger Günther II. von Schwarzburg so gegen den Strich, dass er sich von 1432-1435 teilweise bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Stadtgesellschaft zum Thema leistete. Er scheint insgesamt recht militant gewesen zu sein.
Um den Möllenvogteigarten herum ist die Geschichte wie verknäult. Man nehme zum Beispiel Sebastian Langhans, Möllenvogt zumindest von 1518 bis 1538 (Stadtschreiber von Aschersleben war er vorher schon gewesen). Interessante Zeiten damals. 1523 beschlagnahmte Langhans in seiner Funktion als Stadtvogt ein Bild, das Martin Luther als "Junker Jörg" zeigte, möglicherweise gemalt von Lucas Cranach d. Ä. Am 2. Juli 1524 wurde mit einer Feuerwaffe auf ein Fenster seiner Vogtei geschossen (keine Verletzten).
Die kopflosen Statuen? Ein Sammelsurium aus der Zeit von 1500 bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie wurden aus dem Schutt gezogen, den die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs in Magdeburg hinterlassen hatten, und später hier aufgestellt. Sie erinnern mich an die DDR-Kunstwaisen in der Stadt.
Das Stück, das aufgeführt wurde, als ich fotografierte? Der eingebildete Kranke von Molière (1673).
Und so weiter.
Ich bin schon ein wenig stolz auf meinen Garten.


Teehaus
22/08/25 11:22

Mit dem Stoppelfeld-Express nach Blankenburg/Harz. Rotmilane tanzen über Äckern, die von Landmaschinen aufgewühlt werden.
Der Blankenburger Bahnhof begrüßt mich mit Nebengebäuden, die etwa so verfallen sind wie die in Quedlinburg. Das obligatorische Penis-Graffito ist von rustikaler Einfachheit. In dem noch genutzten Hauptgebäude befindet sich angeblich ein Bistro, aber das ist geschlossen.
Auf einer stetig ansteigenden Rampe geht es in die Stadt hinein, und zum Glück liegt an dieser Rampe eine Bäckerei, denn ich brauche Proviant. Ich steige auf, vorbei an dem Mahnmal für 40 Opfer des faschistischen Terrors (17 Tschechoslowaken und 23 Franzosen), sowie an der Südgrenze des skandinavischen Inlandeises im Quartär.
In den Barockgärten gibt es Schattenbänke, und das ist gut, denn dort kann ich meinen Proviant verzehren. Gestärkt stehe ich vor dem hiesigen Maximilian-Julius-Leopold-Denkmal. Maximilian Julius Leopold von Braunschweig-Wolfenbüttel starb am 27.4.1785 in Frankfurt /Oder. Angeblich, weil er während einer Flut Menschen vor dem Ertrinken retten wollte. Das ist eine seinerzeit gezielt lancierte Legende, aber der Prinz scheint trotzdem ein ungewöhnlicher Mann gewesen zu sein. Er ist jetzt schon seit 240 Jahren tot, und man erinnert immer noch aus den falschen Gründen an ihn. Eine der Frauenfiguren an dem Denkmal sieht zum Fürchten aus; anscheinend sind Reinigungs- oder Restaurierungsversuche in ihrem Gesicht fehlgeschlagen.
Weiter hinauf durch die Gartenanlagen. Mit einem gewissen Verdruss stelle ich wiederum fest, dass mir die Ästhetik des Klassizismus gefällt; dass ich etwas mit ihr anfangen kann. Ich muss an den Schlossgarten von Eutin denken, bei dem mir diese Verschiebung meines Geschmacks zum ersten Mal auffiel. Ganz sicher ein Alterungsphänomen. Das entzückende kleine Teehaus, das an genau der richtigen Stelle im Hang sitzt, sollte geöffnet sein, ist es aber nicht. Noch mehr Verdruss.
Aus Rache denke ich beim weiteren Aufstieg zum Großen Blankenburger Schloss: Wenn die Fürsten vor Gott knieten, knieten sie auf den Hälsen der Bauern. Gleich danach komme ich an einer Aussicht vorbei, die auch Hans Christian Andersen schon gut fand, als er am 27.5.1831 hier vorbeikam. Der Schlosshof ist bis 16.00 Uhr geöffnet, und als ich vor dem Tor stehend auf die Uhr schaue, ist es 16.39 Uhr.
Beim Abstieg sehe ich andere Seiten der hübschen Stadt. Die historischen Straßen sind feingemacht, aber sie sind auch bedenklich leer, melancholisch still. Heute hat Blankenburg etwa 19000 Einwohner. 2010 waren es noch 22000.
Auf dem Rückweg aus dem Zugfenster schauend fällt mir auf, dass viele der abgeernteten Felder von Jäger-Hochsitzen bewacht werden. Als Reh müsstest du wissen, dass im Herbst dort der Tod sitzen kann. Aber was weißt du schon, du bist ja nur Wild.
Es war ein schöner Ausflug in den Spätsommer.








Wespenzeit
20/08/25 13:08
Sie sind an meinem Glaskasten hier oben interessiert. Ich teile mein Frühstück mit ihnen, vertreibe sie aber, wenn sie zu frech werden. Eine Zeitschrift dient mir als Schläger beim Wespentennis. Die Rückhand erreicht langsam Weltranglisten-Niveau.
Vor dem Urlaubshaus in Schweden lag ein leeres Nest im handlangen Gras, grau, hühnereigroß. Ich bewunderte das federleichte Papier, ein Qualitätsprodukt aus abgenagten und zerkauten Holzresten. Innen war es gefaltet und gefältelt wie die Zeit selbst.
Vor dem Urlaubshaus in Schweden lag ein leeres Nest im handlangen Gras, grau, hühnereigroß. Ich bewunderte das federleichte Papier, ein Qualitätsprodukt aus abgenagten und zerkauten Holzresten. Innen war es gefaltet und gefältelt wie die Zeit selbst.