Spätkauf
29/06/25 11:55

Am Samstagabend in die Stadt zurückkommen und nichts mehr im Kühlschrank haben: Es muss kein Problem sein. Ich bin mir sicher, dass der Supermarkt, der nächstgelegene, bis 22.00 Uhr geöffnet hat, denn das hier ist eine Großstadt, und ich habe ja in diesem speziellen Supermarkt schonmal spät eingekauft. Weil ich ganz sicher bin, muss ich nicht sofort losstürzen. Ich kann alles auspacken und verräumen, ich kann einen Tee trinken, locker sein. Trotzdem alert bleiben, trotzdem einen Zeitpuffer einplanen: Aufbruch zum Einkauf ca. 20.30 Uhr. Als ich dann auf den Supermarkt zulaufe, nimmt meine Gewissheit ab. Das sieht ein bisschen verlassener aus, als mir recht sein kann. An der Glastür steht: Samstag 10.00 - 20.00 Uhr. Na sowas. Logistik, denke ich auf dem Nachhauseweg, Logistik ist nicht meine Kernkompetenz. Eine gewisse Enttäuschung über mich, die Welt, den Einzelhandel. Ich denke an meinen Kühlschrank. Natürlich ist er nicht ganz leer. Ein bisschen was ist da, ein bisschen kümmerlich. Wird schon gehen bis Montag. Wird schon.
Im Aufzug nach oben treffe ich auf einen Nachbarn, der einige Bananen dabei hat. Er lächelt mich freundlich an. Spontan frage ich ihn, ob er mir zwei Bananen verkauft. Er nickt begeistert und hält mir die Früchte hin. Ich greife nach meinem Geldbeutel, aber er wehrt ab: "Nein, nein." Ich nehme zwei schöne, große Bananen und denke daran, ihm doch zwei Euro aufzunötigen, damit die Schuld beglichen ist. Aber da muss er schon aussteigen. Er verabschiedet sich freundlich. In meiner Wohnung denke ich, dass ich heute Abend zu meinem Notbrot eine Banane essen kann und am nächsten Morgen zu meinem Notmüsli auch. Warum bin ich so bewegt? Es war doch nur eine einfache Geste.
Retourkutsche
26/06/25 21:49

Manchmal braucht's die Nacht weiß auf schwarz. "Der Brief des Nachtportiers" aus meinem gleichnamigen Gedichtband (Edition Monhardt, Berlin, 2019).
Deckungsungleich
24/06/25 19:20

Die Fahrt von Magdeburg nach Ostholstein führt auch über Stendal und Salzwedel und Uelzen. Ich will mal sehen, ob ich was merke. Aber es ist ja seit Jahrzehnten alles eins, nicht wahr? Bei Salzwedel bin ich mir nicht sicher. Im Bahnhof Schnega nicht. Aber in Soltendieck erkenne ich sofort, dass ich im Westen bin. Woran? Ich kann es nicht sagen. Als ich im Internet nachschaue, lerne ich, dass ich auf der Amerikalinie unterwegs war. Von 1951 bis 1999 gab es zwischen Salzwedel und Uelzen keine Bahnverbindung. Von 1973 bis 1989 existierte der Übergang Bergen-Salzwedel für den kleinen Auto-Grenzverkehr, fünf Kilometer von da weg, wo die Bahn die heute unsichtbare Grenze passiert. Auf der digitalen Karte die eine Markierung: Eine violette Linie, die so fein ist, dass sie die Brücke zerteilen könnte, die der Amerikalinie über die Schnittstelle hilft.

Inland, germano-sozialistisch
21/06/25 18:23

Internationale Solidarität, Emailwandbild von Willi Neubert (1970)
Fahrt zum Harzrand.
Die Bahnsteige sind renoviert, die kleinen Bahnhöfe sind aber fast alle Ruinen, zusammen mit der einst notwendigen Infrastruktur. Manchmal noch Wasserkräne für Dampflokomotiven, die typischen Rüssel bald ganz von Gebüsch verschluckt. Planmäßige Dampftraktion auf Normalspurstrecken gab es in der DDR bis 1988. Die Trümmer sind noch da. Im Bahnhofsgebäude von Ditfurt, dessen Dach noch nicht durchgesackt ist, existiert ein "Bibelstudio".
Immer gern mit einem scheinbar unendlichen Farbvorrat unterwegs sind die Fans des 1. FC Magdeburg. Weiß und blau, blau und weiß, für alle Zeit. Das geht bis weit ins Umland Magdeburgs. An einem verrotteten Backsteingebäude lese ich im Vorbeifahren: „Nur immer diese Lust auf Wahn“. Riesige Lettern, blau und weiß. Kann das stimmen? Hat das wirklich jemand da hingeschrieben?
In Quedlinburg ist selbst der Bahnhof gotisch. Ich renne mit anderen Fahrgästen hin und her, weil die Bahn die Hinweise zum Schienenersatzverkehr vergessen hat. Wir werden dann vom Schienenersatzbus nach Thale geschaukelt. Die Bahnstrecke ist gerade wegen Bauarbeiten gesperrt.
In Thale, das merke ich gleich, haben sie es mit den Hexen und den Germanen. Germanisch gebrandete Ferienwohnungen wechseln sich ab mit Hexenvermarktung. Einen "Mythenweg" gibt es, einen Hexentanzplatz, eine Walpurgishalle (1901 von Bernhard Sehring "im germanischen Stil" hingebaut). Ein Getränk namens "Geile Hexe" darf natürlich am Bahnhofskiosk schon nicht fehlen. Ich stelle mir vor, wie die Wikinger im Germanenhotel sitzen und sich mit Met vollaufen lassen, bis es wieder auf Raubzug geht.
Es gibt aber auch Erinnerungen an jüngere alte Zeiten. Ein privates DDR-Museum im sechsten Stock eines Möbelhauses, darauf musst du erstmal kommen. Die Macher sind darauf gekommen, weil sie nach der Wende im ehemaligen Verwaltungsgebäude des Eisen- und Hüttenwerkes Thale (EHW) das Möbelhaus aufmachten, und dann im sechsten Stock eine Art Zeitkapsel vorfanden. Alles noch wie damals. Sie betonen, dass es ihnen nicht um Ostalgie geht, sondern um Dokumentation. Das Museum ist chronologisch aufgebaut. Es erzählt in Möbeln und Gebrauchsgegenständen die Alltagsgeschichte der DDR, ausführliche Schrifttafeln an den Wänden ergänzen den zeitgeschichtlichen Kontext. Uniformen, Flaggen, Kinderspielzeug, Kosmetikartikel, Werkzeuge, Bücher, Plattenspieler, Computer - alles vorhanden. Bei den Kücheneinrichtungen denke ich mehrfach: Das hätte auch in der Küche meiner Großmutter stehen können. Hat es vielleicht sogar. Ich bin nicht allein bei meinem Streifzug. Familien, ältere Herren, ältere Paare wollen sich umschauen, darunter viele, die all das schon aus eigener Erfahrung kennen. Im DDR-Klassenzimmer nimmt eine Frau ein Buch in die Hand: Der Sozialismus, Deine Welt. Wir schauen uns an, sie ruft mit slawischem Akzent aus: "Das wollten sie uns in die Köpfe schlagen! Aber sie haben es nicht geschafft!" Später kauft sie am Ausgang neu produziertes, nachgemachtes DDR-Spielzeug. "Für die Kinder!" ruft sie der Frau hinter der Theke zu, und die nickt einsichtig.
Auf der Treppe nach unten denke ich: War das alles nur ein seltsames Spiel? Und dann denke ich: Nein, ganz und gar nicht.
Am Bahnhof nehme ich den falschen Schienenersatzbus zurück. Glücklicherweise, denn so werde ich weit länger am Harzrand entlanggeschaukelt als geplant. Neinstedt, Stecklenberg, Bad Suderode. Schwarzwald oder Schwäbische Alb? Nun ja, wo es einen Wald gibt in Deutschland, gibt es auch ein Hotel Waldesruh, ein Haus Waldesruh, eine Pension Waldesruh, auf jeden Fall viel Ruh. Aber natürlich ist es doch anders als in den Randzonen der Mittelgebirge (West). Nur kann ich beim bloßen Anblick nicht sagen, wie anders. Schmuckelemente an den Häusern? Bauweise? Ich weiß es nicht. Es ist anders.
Bei der Rückfahrt sehe ich, dass hier und da schon Heu gemacht wird. Auf manchen der großen Rundballen sitzen Greifvögel und beobachten die Beutesituation im unmittelbaren Nahfeld.
Später lerne ich, dass am 6. Juli 1967 auf der Bahnstrecke zwischen Magdeburg und Thale, und zwar bei Langenweddingen, der schwerste Bahnunfall der DDR-Geschichte stattfand. Beim Zusammenstoß eines Personenzugs mit einem Benzintanklaster kam es zu 94 Todesopfern. 12 von ihnen, die nicht identifiziert werden konnten, wurden in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Magdeburger Westfriedhof begraben. Wie ich bereits erfahren habe, gibt es dort viele Massengräber.





Agrumen
18/06/25 05:37

Hellste Nacht von heiß zu heiß, kann kein Schlaf, Stechmück auch noch, blöde Mück, also dann auf Frühschicht. Hell schon vier Uhr Frühschicht, wie weit ich jetzt, zum Hassel, Straße runter, andre ruff. Blödmückblöde, wennichdich. Bank, Hotel, Museum, Säulen sachlich, Säulen griechisch. Schön und ruhig ist schön und gut, Menschen stören eh, finden Tauben auch, Dutzend sind ein Streich, ich ein Störenfaktor. Alle alles aufgeräumt, Beine, Arme, Autos, Räder, Köpfe Augen zu, Einkaufswagen umgekippt, alles super eingelegt. Straßenrumpelbahn, keiner rumpelt mit. Nur der von der Frühschicht, Neon auf der Glatz. China-Lampion-Restaurant. Bar und Bar und nochmal Bar. Minihäuschen MVB, mit schön fester Leere. Dann am Hassel keiner da. Drehe rum, kurve um, Richtungswechsel. Werbelappen flappen, Kunst zum Kichern einfach. Barbershop, Barbershop, Haare lassen, Tag für Tag, Haar für Haar. Hab am Vortag Haar gelassen, bin geschoren ganz und gar. Reinigung an Haltestelle. Mädchen kichern sich zur Frühschicht, schon so früh Kikeriki. Welkzitronen blieben über in der kahlen Kiste. Kleiner Park. Neophyten? Frühvergammler! Und Lavendel! Gegen Mück. Zweidrei Stengel liegen da, vielleicht vom Kind, vielleicht vom Rind, steck sie in die Tasch. Mann und Frau vorm Einkaufsbau. Sie mit Rauch, er trunken. "Überleg's dir", sagt er. "Weißt ja, dass ich einsam bin." "Uwe, ach!", sagt sie, Asche schnippen weg. Ich vorbei. Jetzt mehr Autos. Sonne steigt. Bald schon fünf am Morgen. Hoch zur warmen Wohnung. Fenster auf, Fenster zu.





Sättigung
17/06/25 23:07

Balkon, 10. Stock
Das Aas, das der Rabe vom Imbiss bringt:
steck’s in die Wolken bei Windgefahr.
Schimmer auf schwarzem Gefieder
wird Autolack des Jahres.
Ruf einen Freund an.
Wenn ihr nur still seid,
macht euch das Rauschen
satt.
Tonaufnahme aus dem 10. Stock [MP3]

Lotos
15/06/25 11:57

Rolf Lindemann, Zwei Personen in Aktion, 2008
Vielleicht haben ja die Buddhisten recht. Sie verehren den Lotos nicht nur, weil er so schön ist, sondern auch, weil er dem Schlamm entwächst.
Gestern feierte das Kunstmuseum Magdeburg den 50. Es präsentiert sorgsam kuratierte moderne Kunst in einer ehemaligen Klosteranlage aus dem 11. Jahrhundert. Eines der schönsten Museen, in dem ich je war. Man denkt beinahe: So könnte das Abendland ja auch sein.
Wo ist der Schlamm?
Natürlich nicht nur in der Geschichte, aber da auch. Die letzten Prämonstratenser verließen das Kloster 1632, bald nach der Magdeburger Hochzeit, dem schlimmsten Massaker des Dreißigjährigen Krieges. 20000 zivile Todesopfer an einem Tag.
Wo ist der Schlamm?
An seinem Geburtstag war das Museum umgeben von hellen und aufgeräumten Straßen. Magdeburg ist eine schöne Stadt. Wer's nicht glaubt, sollte bei nächster Gelegenheit mal hinfahren.
Allerdings wissen wir, zu was für Untaten Deutschland wieder fähig ist. Es ist auch klar, was die Rechte mit der Kultur vorhat. Sie erklärt es ja ganz offen, wie neulich in einer Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt. Und die Linke versagt viel zu oft bei der Abwehr der Barbarei oder befördert sie aktiv.
Wäre das Museum nur eine schöne Blume, dürfte es nichts vom Schlamm wissen. Tut es natürlich aber. Die Kunst bringt ihre Wurzeln mit, wenn sie nicht nur Dekoration sein will. Ich empfehle den Besuch nachdrücklich.

Der Kommunist
11/06/25 22:52

Das Literaturhaus Magdeburg hat mit der Germanistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg eine Kooperation laufen. Da können Studierende ein Praktikum am Literaturhaus machen, und es zählt fürs Studium. Dana Paschert, Studentin der Mediengermanistik, hat sich darauf eingelassen und eine Ausstellung gebaut, die jetzt im Literaturhaus gezeigt wird: vergnügen der götter: ronald m. schernikau. leben und werk.
Schernikau, der 1960 in Magdeburg geboren wurde, dann im Westen war und am Ende wieder im Osten. Der dem DDR-Schriftstellerverband damals zum Abgesang die Leviten gelesen hat. Der seinen Genossinnen und Genossen, die es nicht mehr sein wollten, Verrücktheit vorwarf; eine Verrücktheit, die auf ähnliche Weise Christian Geissler beschrieben hat, als er von einem Ex-DDR-Bürger erzählte, der sich nach der Wende einen irreparabel kaputten BMW kauft, nur um einen BMW zu haben.
Schernikau, der meinte, dass der DDR-Sozialismus Ergebnis einer Revolution gewesen ist. Der seinen eigenen Spinnereien (und natürlich denen von Peter Hacks) auf den Leim ging. Der geniale Verwechsler, der zu oft glaubte, was er dachte. Der so zart und grob sein konnte, wie es nur Leute sind, die von ihrer eigenen Klugheit geblendet werden. Seine unverschämte und wahre Rede, und wie verzweifelt wir über sie hinaus sind. An einem Punkt, zu dem er sicher etwas zu sagen hätte. Wie Uwe Johnson, Christian Geissler, Brigitte Reimann oder Gisela Elsner auch. Jemand hatte etwas zu sagen, wenn er fehlt, obwohl er sich gerne irrte.
Die Ausstellung ist nicht groß; das kommt auch daher, dass sie auf Firlefanz verzichtet. Es geht um die zentralen Punkte: "schreiben, schwulsein, kommunistsein", wie Schernikau selbst sagte. Und um sonst nichts. Kein tonnenschwerer Theorieapparat, kein Feuilletongelaber, kein Prestigegetue. Sehr angenehm.
Birdwatcher
11/06/25 13:16

Zu den Falken, Tauben, Mauerseglern und Krähen kommen jetzt noch die Drohnen hinzu. Es wird eindeutig Sommer. Sieht aus wie eine Mavic 3E mit RTK-Modul und Mobilfunk-Dongle. Wahrscheinlich einfach eine Vermessungsdrohne der Stadt oder eines Bauunternehmens. Aber ich bin kein Birdwatcher.
Wo ist meine Harpune?
Kurvenradius
09/06/25 19:34

Natürlich kreischen, rumpeln und bimmeln sie. Aber manchmal machen sie auch ein spezielles Geräusch, das ich ein Flöten nennen würde. Es ist schon Metall auf Metall wie beim Kreischen. Klingt aber, als würde jemand mit einer Polierscheibe das Innere einer gigantischen Röhrenglocke bearbeiten. Das Verhalten von Gebrauchsgegenständen, die Musikinstrumente sein wollen. Ich respektiere das. Ein ganz ferner Nachhall von Awraamows Sirenen und dadurch ihr Gegenteil. Die Straßenbahnen haben flötende Nebelhörner, und die ganze Stadt ist ihr Hafen.
Regelmäßig, tief in der Nacht, treffen sich auch zwei, da unten, an der Haltestelle. Sie haben Pause, sie flüstern sich von Gleis zu Nebengleis was zu. Dann rumpeln, kreischen und flöten sie wieder. Weil es ja nichts hilft. Weil ja immer irgendwer bewegt werden muss.
"Städte mit einer Straßenbahn sind anders als Städte ohne", sagte ein Besucher neulich. Flöten und Flüstern gehören zum Unterschied.
Astronauten
07/06/25 13:55

Ich war bisher vier oder fünf Mal da. In verschiedenen Rollen – als Autor, Chronist, Mitdiskutant, einmal sogar als Mitorganisator. Die NextFrontiers, eine Konferenz in Stuttgart, die sich seit 2019 jährlich einem wichtigen, unseriösen Tun hingibt: dem Nachdenken über die Zukunft zwischen Science und Fiction. Da sind Leute mit großen Rosinen im Kopf unterwegs. Die Baustoffe der Zukunft, die Besiedelung des Mars, Quantenphysik, Robotik, die Zukunft der Ernährung, der Mobilität, der Raumfahrt - you get the picture. Die Menschen fragen sich, was sein könnte und bringen ihre Expertise, ihre Berechnungen, ihre Geschichten mit. Ich auch, ich auch. Dieses Mal zwei Szenarientexte, einen zur grünen Gentechnik (denselben wie letztes Jahr), und einen neuen zur näheren Zukunft der Raumfahrt.
Was wirklich geschehen wird? Ich weiß es nicht.
Aber es hat sich was verändert über die Jahre. 2019 fragten wir uns, was wir tun könnten. Dieses Jahr ging es hörbar, sichtbar, fühlbar darum, was wir überhaupt noch tun können.
[Geschrieben im ICE "Bundesrepublik Deutschland" zwischen Stuttgart und Erfurt.]
Mahlzeit
02/06/25 23:35

Foto: Enercon, Public Relations
Auf der Suche nach DDR-Industrieruinen wäre man im ILC Rothensee falsch. Da wirkt alles ziemlich neu, groß und aktiv. Wie zum Beispiel auch der Magdeburger Standort einer Firma, die Windenergieanlagen herstellt: Enercon. 1984 in Aurich gegründet, hat sie heute über 60 GW Leistung weltweit installiert. Im Jahr 2022 machte sie einen Umsatz von 2,67 Milliarden Euro, aktuell beschäftigt sie insgesamt ca. 14000 Mitarbeiter. In der Magdeburger Niederlassung ist man auf die Herstellung der Generatoren spezialisiert; die Rotorblätter und die Betontürme werden woanders gemacht. Streng genommen bekomme ich eine Manufaktur zu sehen, denn hier gibt es keine Fließbänder. Aber bei 750 Mitarbeitern in riesigen, 17 Meter hohen Hallen und bei einzelnen, runden Bauteilen, die bis zu 14 Metern Durchmesser haben, drängt sich mir der Begriff "Manufaktur" nicht zuallererst auf. Ich sehe eine Pulverbeschichtungsanlage, die so groß ist wie ein Einfamilienhaus. Auf dem Werksgelände steht ein Windrad, das wir uns von unten betrachten. Der Umweltbeauftragte fordert mich zu einer Höhenschätzung auf. Ich vermute, dass die Generatorgondel etwa fünfzig Meter über dem Boden schwebt. Er weist mich darauf hin, dass das schon deswegen schwerlich sein kann, weil jedes der drei Rotorblätter 65 Meter lang ist. Der Turm hat eine Nabenhöhe von 150 Metern. Leistung bei Volllast: 4 MW. Dieser eine Rotor könnte das komplette Werk versorgen, wenn der Strom nicht in das Netz der Magdeburger Stadtwerke eingespeist würde. Was mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass der Rechner, an dem ich diesen Text schreibe, auch schon Energie von diesem einen Turm in Magdeburg Rothensee bezogen hat. Ich kann ihn von meinen Nordfenstern aus problemlos sehen.
Wir spazieren durch das weitläufige Werk; der Umweltbeauftragte grüßt seine Kolleginnen und Kollegen klassisch: "Mahlzeit!" Ich werde informiert. Zum Beispiel über die Vor- und Nachteile von Systemen, die mit Elektromagneten arbeiten und solche, die Permanentmagnete benutzen: Der Wirkungsgrad von Generatoren mit Permanentmagneten ist etwas höher, aber für Permanentmagnete werden Seltene Erden benötigt, und die größten Lagerstätten davon befinden sich in China. Die hierzulande geltende Laufzeitbegrenzung für Windenergieanlagen auf maximal 25 Jahre hält der Umweltbeauftragte für künstlich: "Anderswo stehen die aufgearbeiteten Dinger dann nochmal so lang." Gegen Ende hin gehen wir noch die komplette Fabrikationsstraße ab, die jüngst von einem anderen, ausländischen Standort hierher verlegt wurde. Als wir uns an der Pforte verabschieden, sind wir anderthalb Stunden unterwegs gewesen, und ich habe Dinge erfahren, die mir ohne meinen Stadtschreiber-Aufenthalt in Magdeburg verborgen geblieben wären.
Zum Beispiel: Die Zeiten, in denen man in Deutschland absichtlich schlechte Windenergieanlagen gebaut hat, um zu beweisen, dass Windenergie nichts taugt, sind lang vorbei.
Natürlich gibt es Probleme. Es gibt immer Probleme. Sie zu lösen, wäre eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Derweil drehen sich am Horizont leise und effizient die Rotoren.
