June 2025

Sättigung

notlondonFed


Balkon, 10. Stock

Das Aas, das der Rabe vom Imbiss bringt:
steck’s in die Wolken bei Windgefahr.

Schimmer auf schwarzem Gefieder
wird Autolack des Jahres.

Ruf einen Freund an.
Wenn ihr nur still seid,
macht euch das Rauschen
satt.

Tonaufnahme aus dem 10. Stock [MP3]


balkon10

Lotos

personenaktion
Rolf Lindemann, Zwei Personen in Aktion, 2008

Vielleicht haben ja die Buddhisten recht. Sie verehren den Lotos nicht nur, weil er so schön ist, sondern auch, weil er aus dem Schlamm erwächst.

Gestern feierte das Kunstmuseum Magdeburg den 50. Es präsentiert sorgsam kuratierte moderne Kunst in einer ehemaligen Klosteranlage aus dem 11. Jahrhundert. Eines der schönsten Museen, in dem ich je war. Man denkt beinahe: So könnte das Abendland ja auch sein.

Wo ist der Schlamm?

Natürlich nicht nur in der Geschichte, aber da auch. Die letzten Prämonstratenser verließen das Kloster 1632, bald nach der Magdeburger Hochzeit, dem schlimmsten Massaker des Dreißigjährigen Krieges. 20000 zivile Todesopfer an einem Tag.

Wo ist der Schlamm?

An seinem Geburtstag war das Museum umgeben von hellen und aufgeräumten Straßen. Magdeburg ist eine schöne Stadt. Wer's nicht glaubt, sollte bei nächster Gelegenheit mal hinfahren.

Allerdings wissen wir, zu was für Untaten Deutschland wieder fähig ist. Es ist auch klar, was die Rechte mit der Kultur vorhat. Sie erklärt es ja ganz offen, wie neulich in einer Sitzung des Landtags von Sachsen-Anhalt. Und die Linke versagt viel zu oft bei der Abwehr der Barbarei oder befördert sie aktiv.

Wäre das Museum nur eine schöne Blume, dürfte es nichts vom Schlamm wissen. Tut es natürlich aber. Die Kunst bringt ihre Wurzeln mit, wenn sie nicht nur Dekoration sein will. Ich empfehle den Besuch nachdrücklich.

kreuzgang

Der Kommunist

kommunist

Das Literaturhaus Magdeburg hat mit der Germanistik an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg eine Kooperation laufen. Da können Studierende ein Praktikum am Literaturhaus machen, und es zählt fürs Studium. Dana Paschert, Studentin der Mediengermanistik, hat sich darauf eingelassen und eine Ausstellung gebaut, die jetzt im Literaturhaus gezeigt wird: vergnügen der götter: ronald m. schernikau. leben und werk.

Schernikau, der 1960 in Magdeburg geboren wurde, dann im Westen war und am Ende wieder im Osten. Der dem DDR-Schriftstellerverband damals zum Abgesang die Leviten gelesen hat. Der seinen Genossinnen und Genossen, die es nicht mehr sein wollten, Verrücktheit vorwarf; eine Verrücktheit, die auf ähnliche Weise Christian Geissler beschrieben hat, als er von einem Ex-DDR-Bürger erzählte, der sich nach der Wende einen irreparabel kaputten BMW kauft, nur um einen BMW zu haben.

Schernikau, der meinte, dass der DDR-Sozialismus Ergebnis einer Revolution gewesen ist. Der seinen eigenen Spinnereien (und natürlich denen von Peter Hacks) auf den Leim ging. Der geniale Verwechsler, der zu oft glaubte, was er dachte. Der so zart und grob sein konnte, wie es nur Leute sind, die von ihrer eigenen Klugheit geblendet werden. Seine unverschämte und wahre Rede, und wie verzweifelt wir über sie hinaus sind. An einem Punkt, zu dem er sicher etwas zu sagen hätte. Wie Uwe Johnson, Christian Geissler, Brigitte Reimann oder Gisela Elsner auch. Jemand hatte etwas zu sagen, wenn er fehlt, obwohl er sich gerne irrte.

Die Ausstellung ist nicht groß; das kommt auch daher, dass sie auf Firlefanz verzichtet. Es geht um die zentralen Punkte: "schreiben, schwulsein, kommunistsein", wie Schernikau selbst sagte. Und um sonst nichts. Kein tonnenschwerer Theorieapparat, kein Feuilletongelaber, kein Prestigegetue. Sehr angenehm.

Birdwatcher

birdwatcher

Zu den Falken, Tauben, Mauerseglern und Krähen kommen jetzt noch die Drohnen hinzu. Es wird eindeutig Sommer. Sieht aus wie eine Mavic 3E mit RTK-Modul und Mobilfunk-Dongle. Wahrscheinlich einfach eine Vermessungsdrohne der Stadt oder eines Bauunternehmens. Aber ich bin kein Birdwatcher.

Kurvenradius

kurvenradius

Natürlich kreischen, rumpeln und bimmeln sie. Aber manchmal machen sie auch ein spezielles Geräusch, das ich ein Flöten nennen würde. Klar ist es Metall auf Metall wie beim Kreischen. Klingt aber, als würde jemand mit einer Polierscheibe das Innere einer gigantischen Röhrenglocke bearbeiten. Das Verhalten von Gebrauchsgegenständen, die Musikinstrumente sein wollen. Ich respektiere das. Ein ganz ferner Nachhall von Awraamows Sirenen und dadurch ihr Gegenteil. Die Straßenbahnen haben flötende Nebelhörner, und die ganze Stadt ist ihr Hafen.

Regelmäßig, tief in der Nacht, treffen sich auch zwei, da unten, an der Haltestelle. Sie haben Pause, sie flüstern sich von Gleis zu Nebengleis was zu. Dann rumpeln, kreischen und flöten sie wieder. Weil es ja nichts hilft. Weil ja immer irgendwer bewegt werden muss.

"Städte mit einer Straßenbahn sind anders als Städte ohne", sagte ein Besucher neulich. Flöten und Flüstern gehören zum Unterschied.

Astronauten

astro

Ich war bisher vier oder fünf Mal da. In verschiedenen Rollen – als Autor, Chronist, Mitdiskutant, einmal sogar als Mitorganisator. Die NextFrontiers, eine Konferenz in Stuttgart, die sich seit 2019 jährlich einem wichtigen, unseriösen Tun hingibt: dem Nachdenken über die Zukunft zwischen Science und Fiction. Da sind Leute mit großen Rosinen im Kopf unterwegs. Die Baustoffe der Zukunft, die Besiedelung des Mars, Quantenphysik, Robotik, die Zukunft der Ernährung, der Mobilität, der Raumfahrt - you get the picture. Die Menschen fragen sich, was sein könnte und bringen ihre Expertise, ihre Berechnungen, ihre Geschichten mit. Ich auch, ich auch. Dieses Mal zwei Szenarientexte, einen zur grünen Gentechnik (denselben wie letztes Jahr), und einen neuen zur näheren Zukunft der Raumfahrt.

Was wirklich geschehen wird? Ich weiß es nicht.

Aber es hat sich was verändert über die Jahre. 2019 fragten wir uns, was wir tun könnten. Dieses Jahr ging es hörbar, sichtbar, fühlbar darum, was wir überhaupt noch tun können.

[Geschrieben im ICE "Bundesrepublik Deutschland" zwischen Stuttgart und Erfurt.]

Mahlzeit

15kl
Foto: Enercon, Public Relations

Auf der Suche nach DDR-Industrieruinen wäre man im ILC Rothensee falsch. Da wirkt alles ziemlich neu, groß und aktiv. Wie zum Beispiel auch der Magdeburger Standort einer Firma, die Windenergieanlagen herstellt: Enercon. 1984 in Aurich gegründet, hat sie heute über 60 GW Leistung weltweit installiert. Im Jahr 2022 machte sie einen Umsatz von 2,67 Milliarden Euro, aktuell beschäftigt sie insgesamt ca. 14000 Mitarbeiter. In der Magdeburger Niederlassung ist man auf die Herstellung der Generatoren spezialisiert; die Rotorblätter und die Betontürme werden woanders gemacht. Streng genommen bekomme ich eine Manufaktur zu sehen, denn hier gibt es keine Fließbänder. Aber bei 750 Mitarbeitern in riesigen, 17 Meter hohen Hallen und bei einzelnen, runden Bauteilen, die bis zu 14 Metern Durchmesser haben, drängt sich mir der Begriff "Manufaktur" nicht zuallererst auf. Ich sehe eine Pulverbeschichtungsanlage, die so groß ist wie ein Einfamilienhaus. Auf dem Werksgelände steht ein Windrad, das wir uns von unten betrachten. Der Umweltbeauftragte fordert mich zu einer Höhenschätzung auf. Ich vermute, dass die Generatorgondel etwa fünfzig Meter über dem Boden schwebt. Er weist mich darauf hin, dass das schon deswegen schwerlich sein kann, weil jedes der drei Rotorblätter 65 Meter lang ist. Der Turm hat eine Nabenhöhe von 150 Metern. Leistung bei Volllast: 4 MW. Dieser eine Rotor könnte das komplette Werk versorgen, wenn der Strom nicht in das Netz der Magdeburger Stadtwerke eingespeist würde. Was mit hoher Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass der Rechner, an dem ich diesen Text schreibe, auch schon Energie von diesem einen Turm in Magdeburg Rothensee bezogen hat. Ich kann ihn von meinen Nordfenstern aus problemlos sehen.

Wir spazieren durch das weitläufige Werk; der Umweltbeauftragte grüßt seine Kolleginnen und Kollegen klassisch: "Mahlzeit!" Ich werde informiert. Zum Beispiel über die Vor- und Nachteile von Systemen, die mit Elektromagneten arbeiten und solche, die Permanentmagnete benutzen: Der Wirkungsgrad von Generatoren mit Permanentmagneten ist etwas höher, aber für Permanentmagnete werden Seltene Erden benötigt, und die größten Lagerstätten davon befinden sich in China. Die hierzulande geltende Laufzeitbegrenzung für Windenergieanlagen auf maximal 25 Jahre hält der Umweltbeauftragte für künstlich: "Anderswo stehen die aufgearbeiteten Dinger dann nochmal so lang." Gegen Ende hin laufen wir noch die komplette Fabrikationsstraße ab, die jüngst von einem anderen, ausländischen Standort hierher verlegt wurde. Als wir uns an der Pforte verabschieden, sind wir anderthalb Stunden unterwegs gewesen, und ich habe Dinge erfahren, die mir ohne meinen Stadtschreiber-Aufenthalt in Magdeburg verborgen geblieben wären.

Zum Beispiel: Die Zeiten, in denen man in Deutschland absichtlich schlechte Windenergieanlagen gebaut hat, um zu beweisen, dass Windenergie nichts taugt, sind lang vorbei.

Natürlich gibt es Probleme. Es gibt immer Probleme. Sie zu lösen, wäre eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Derweil drehen sich am Horizont leise und effizient die Rotoren.


WindraederHorizont