April 2025

Manöver

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Elbmanöver


Verklicker mir was.
Ich will süßen Tee und Magnolien,
gleich bei der Stalinallee,
gleich bei dem Käferschaukasten
für Arten, die’s nicht mehr gibt.

Über dem Frühling schwebt eine Wohnung,
da schlaf ich meine Nüchternheit aus.
Tagsüber helle Stelen im Wind,
manche bewohnt, manche halt nicht.

Wichtig die Welt als Kopierfehler,
weil so die Evolution geht.

Abends dem Fluss ein Ding verklickern,
er bringt es heim zum Meer.


Tonaufnahme: MP3

Fest

fest

1995 machte ich Urlaub auf Alderney, einer der britischen Channel Islands (Ärmelkanal). Dort gibt es aufgegebene viktorianische Forts; Befestigungsanlagen, die den Franzosen die Lust an militärischen Abenteuern im Ärmelkanal und auf den Inseln nehmen sollten. Auf meinen Alderney-Wanderungen stolperte ich auch in eines der Forts hinein; nur mal umschauen, nur mal in die dunklen Fensteraugen gucken. Ich erinnere mich an ein Autowrack im Hof, aber auch an die Geräusche der Fortgespenster: ein Schlurfen, ein Schniefen. Vielleicht waren es auch Einheimische, die dort etwas zu tun hatten, oder andere Touristen wie ich. Jedenfalls wurde ich beobachtet, das stand fest. Ich zog mich bald diskret zurück.

Festungsanlagen haben in Magdeburg Tradition. Es gab sie vor der Katastrophe der Magdeburger Hochzeit (1631) und danach erst recht. Jahrhundertelang. Heute sind davon nur noch kleine Reste übrig, zum Beispiel die Festung Mark. Als ich das Osterfeuer erlebte, das jedes Jahr dort stattfindet, erinnerte mich das Gebäude an die viktorianischen Forts auf Alderney. Vielleicht andere Baumaterialien, aber eine vergleichbare Formensprache, bedingt durch den gleichen Zweck.

Die Ukraine muss sich seit elf Jahren verteidigen, Israel seit dem ersten Tag seiner Existenz. Europa müsste sich verteidigen, nach außen und nach innen, wenn es in der autoritären/faschistischen Welle nicht untergehen will, die um die Welt zieht. Wie kann das nach außen gehen ohne (euro-)nationalistische Hysterie, ohne Militarismus und ohne die Verwandlung der Eurozone in die Festung Europa? Wie soll das nach innen funktionieren, wenn man die autoritären/faschistischen Tendenzen in Europa nicht nur nicht ernst nimmt, sondern auch noch aktiv stärkt?

Das wüsste ich gern einmal.

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Erkenntnis und Interesse

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Zack, erstmal in den Rotehorn-Park, um zwei neue Arten zu entdecken: den Goldspatz und die Mokkatortenente. Lass ich mir gleich patentieren, schnappt mir keiner weg. Dann, zack, in die Gruson-Gewächsäuser, ach was, die Gruson-Gewächswelt, die grüne Hölle Magdeburgs. Wo Schwiegermuttersitze daheim sind, wo der Rotohrbülbül fliegt und die Straußwachteln wachteln. Pflanzenarten vielerlei: Schildblättrige Hakenfrucht, Kriechendes Springkraut und Riesen-Pfeifenwinde betreiben ihre geheimen Geschäfte. Mal ist es heiß, mal kalt, mal feucht, mal trocken in den verschiedenen Ecken der Welt von Mexiko bis Sowieso. Ich entdecke die Diskokugel, die im Farnhaus hängt, denn die Farne tanzen gern Disko-Fox. Ich puste die sanften Samenmobiles sinnlos weit entwickelter Sisalpflanzen an. Erwehre mich der Überwucherung durch Bananenblätter. Nehme die Pfeilgiftfrösche ins Visier, warne auch die Wirbellosen. Dann zack, ab in den Amazonas. Erfrischung bei den Fischen. Ja, glotzt nur, ihr glubschäubigen Klotzköpfe, sowas habt ihr noch nicht gesehen. Zum Glück kommt der Gelbe Segelflossendoktor hier nicht vor, denn der würde mich schnell behandeln. Vor dem taktischen Rückzug zeige ich noch den scharfen Zähnen der Piranhas gegenüber Härte. Dann, zack, genug erfrischt und wieder an Land. Am Ausgang der grünen Hölle kaufe ich Preziosen aus den Tropen, zum Beispiel einen Riegel aus Schokolade und Kokosraspeln. Den kauend befällt mich der Verdacht, dass ich vielleicht doch ein Weltnaturkenner bin.

Signal und Rauschen

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Nachts um Zwei. Alles still, niemand auf den Straßen. Sogar die Motorradjungs liegen in ihren Betten und träumen von mehr Geschwindigkeit, mehr, schneller! Es kann schon sein, dass ich gerne über die Stadt hinrufen würde, um etwas zu sagen, was ich nicht sagen kann. Aber das wäre ja peinlich, das würde nur stören. Ich kann sehen. Zum Beispiel das grüne Flimmern im obersten Stockwerk eines Nachbarhochhauses, vielleicht 150 Meter entfernt. Was ist das? Grüne LEDs sind das. Kein Privatanwender, es sind zu viele. Ich sehe einem ganzen Serverraum bei diesem Flimmern zu, das anzeigt: Hier ist alles ok mit Latenz und Durchsatz. Da gehen die Daten nur so durch, deine, meine, alle. Tagsüber flimmern die Lichterketten des Datenverkehrs auch, aber sie sind dann für mich nicht sichtbar. Der Funk, der zwischen den Antennen auf den hochgelegenen Hausdächern in der Stadt hin und her geht, ist nie sichtbar. Der Hass, die Liebe, die Banalitäten. Lügen und Kochrezepte. Panikmache und Information. Die wenigen Goldkörnchen in all dem Müll. Die Luft müsste dick sein nicht nur von Verkehrs-, Heizungs- und Industrieabgasen, sondern auch von all den Signalen. Ist sie aber nicht. Wir atmen keine elektromagnetischen Felder. Wir sehen das Flimmern der LEDs und der Bildschirme. Und die Antennen.

"Faustregel" aus meinem Gedichtband Halbdunkles Licht:

Faustregel

Ein Buch aufschlagen,
im Dunkeln lesen,
was keiner glaubt,
wie ein Geheimdienst.

Schöne Musik ist hier,
weil alle Antennen summen.
Anderswo leuchten die Meere,
dass es eine Last ist.

[MP3] [Buchtrailer]

DIY

Grasland

Manchmal vergisst man, was man schon gemacht hat. Es ist eine Form der Missachtung.

Ich bezeichne das Schimmerbuch immer als mein erstes Fotobuch, aber so ganz stimmt das nicht. Da ist ja auch noch Grasland.

Mit dem Jugendroman war ich Ende 2012 fertig, aber ich wollte nicht wirklich warten, bis er vielleicht einmal irgendwo veröffentlicht werden würde. Mit C. suchte ich Bilder aus, 53 von mir, 2 von ihr. Ein E-Book war die Folge. Die Lokalpresse machte eine Besprechung dazu, weil das mit den E-Books damals noch eher neu war. Ich machte selbst ein Hörbuch daraus, und es dauerte ein Jahr. Ein sehr aufschluss- und lehrreiches Jahr. Wir drehten einen Filmtrailer. Eine MP3-DVD selber herstellen und bedrucken, warum nicht? Der dänische Verlag SAGA/Egmont nahm das Hörbuch in sein Programm auf (Hörprobe). Der Schiler & Mücke-Verlag druckte einen Auszug in einem Lesebuch. Aber als ganzes gedrucktes Buch gibt es den Roman nicht.

Was ist eine Arbeit? Was ist ein Produkt? Was ist ein Erfolg?

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Jäger

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Ein Weibchen, wenn ich das richtig sehe. Es war gar nicht so leicht. Sie musste da auf der Brüstung sitzen, ich musste überhaupt hier sein, und die Kamera mit dem halbwegs tauglichen Objektiv musste auch zufällig griffbereit herumliegen. So aufmerksam, diese Tiere. Das ist wohl nötig zum Überleben. Die Bildqualität ist immer noch mäßig: geschlossenes Fenster, zu kurze Brennweite, unerfahrener Falkenfotograf. Wenn ich sie mir so anschaue, könnte das mit der engen Verwandtschaft zu den Papageien schon hinkommen.

Sei mir gegrüßt, Haru. Besuch mich noch öfter.

[Vorhin hat sie sich an eben diesem Platz mit ihrem aktuellen Lover gepaart. Es muss weitergehen. Falcons for Future.]

Vorabend

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Das Feuer bestimmte die Bewegungen. Erst wollten alle ganz nahe beim Scheiterhaufen sein; ich auch, zum Fotografieren. Aber man ließ den Künstlerinnen, die vorher Feuerzauber gemacht hatten, einen Weg frei. Zum Anzünden. Die Hitze wurde bald unerträglich, und der Kreis dehnte sich aus. Noch in größerer Entfernung glühten die Gesichter. Man rückte wieder näher, als der Brennstoff nach und nach aufgebraucht wurde. Die langsame Atemfrequenz einer Menschenmasse: aus, ein, aus. Dann zerstreute sich das spontane Kollektiv, das zusammen geatmet hatte, ohne davon zu wissen. Die Frau an der Bar fragte mich nach dem Pfandchip für meine Flasche, den ich nicht vorweisen konnte.

"So, so", sagte sie, "Sie haben also gar keinen Chip bekommen?"

Ich gestikulierte einen luftigen Rahmen um meinen Kopf. "Kann dieses Gesicht lügen?"

Fröhliches Gelächter der Kollegin.

"Da will ich Ihnen mal glauben. Meine gute Tat für heute!" Die Barfrau legte mir den Euro hin.

Gutgelaunt ging ich durch die leeren Straßen nach Hause.

Daheim machte sich der zusätzliche Feinstaub in meiner Lunge bemerkbar. Aus, ein, aus. Meine Kleider rochen nach Rauch. Beim Ansehen der Feuerbilder wurde mein Gesicht wieder warm.

Mein erstes Osterfeuer.

Frohe Ostern.

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Tradiert

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Wie schwer kann es sein, sich von der Monarchie zu lösen? In einem Land, in dem es sie seit mehr als einhundert Jahren nicht mehr gibt?

Die Brücke ist sehr schön. Wenn ich Wikipedia richtig verstehe, handelt es sich um eine einhüftige Brücke, bei der die Tragseile im Fächersystem aufgehängt sind, und zwar an freitagenden Pylontürmen. Im hellen Aprillicht wirken die Türme grazil. Man hofft, dass sie all das Gewicht gut tragen. Ein Bauwerk, auf das Magdeburg stolz sein kann. Es wird in der Baugeschichte der Stadt seine Rolle spielen, neben der Hyparschale und dem Albinmüller-Turm zum Beispiel. Ich sehe die weißen Fächer bei jedem Blick aus dem Fenster, der nach Osten geht.

Als die Benennung der Brücke anstand, nahm man Vorschläge von den Bürgerinnen und Bürgern Magdeburgs entgegen. Die Bürgerinnen und Bürger wollten mehrheitlich, dass die große Tragseilbrücke Kaiser-Otto-Brücke heiße und ein weiteres, kleineres, vorgelagertes Brücklein: Königin-Editha-Brücke. Außerdem fiel auch gehäuft der Name Heinz Krügel. Heinz Krügel ist eine weitbekannte Fußballpersönlichkeit in einer Stadt, die Fußball ernst nimmt. Aber Heinz Krügel war auch von 1940-1944 Mitglied der 5. SS-Panzerdivision "Wiking", und diese Division beging zum Beispiel in der Ukraine Kriegsverbrechen. Es blieb bei Kaiser Otto und Königin Editha.

Man hätte viele Möglichkeiten gehabt. Die Brücke steht gewissermaßen in der Verlängerung der Ernst-Reuter-Allee (früher Stalinallee). Man hätte sie problemlos nach Ernst Reuter nennen können, dem Sozialdemokraten, Verfolgten des NS-Regimes, ehemaligen Oberbürgermeister Magdeburgs. Oder warum nicht nach Hermann Beims? Ebenfalls ein sozialdemokratischer OB, Reuters unmittelbarer Vorgänger in der großen Zeit des neuen Bauens in Magdeburg. Zwar trägt schon die Universität Otto von Guerickes* Namen, und die Halbkugeln seines Versuchs sind über die ganze Stadt verteilt, aber war er nicht ein Ingenieur und Physiker und erwiesenermaßen ein sehr kluger Kopf, auf jeden Fall der modernen Brückenkonstruktion weit näher als der frühmittelalterliche Kaiser? Gut, nach Lebenden sollte die Brücke nicht benannt werden, aber eine Jürgen-Sparwasser-Brücke, benannt nach dem Maschinenbau-Ingenieur, Torschützen in Hamburg 1974 und Republikflüchtling, das wäre doch verführerisch gewesen.

Lauter Männer. Warum nicht ein gemeinsamer Frauenname für die große und die kleine Brücke? Heise-Brücke. Katharina und Annemarie Heise, die Künstlerinnen, nicht gut, nicht bekannt genug? Sie hätten die Formensprache verstanden, vielleicht gefeiert. Beide Brücken, die große und die kleine, als Brückenzug nach Louise Aston zu benennen – das hätte viel Mut erfordert. Emilie Winkelmann, die erste freiberufliche Architektin in Deutschland, nicht tauglich? Ebenso Claire von Glümer*, die für die Magdeburger Zeitung aus der Frankfurter Paulskirche berichtete? Ich will gar nicht so tun, als wären mir Aston, Winkelmann und von Glümer vor dem Herumgucken im Internet bekannt gewesen.

Man hätte die Pylontürme auch weiß streichen können wie die Tragseile. "Weiße Brücke", warum nicht. Weiß wie die weiße Flotte von Ausflugsdampfern auf der Elbe. Es blieb beim Kaiser und seiner ersten Frau. Bei groß und klein.

Ein 1995 neu gebautes Gymnasium im nahegelegenen Wolmirstedt heißt: Kurfürst-Joachim-Friedrich-Gymnasium (KJFG).

Wie schwer es sein kann, sich von der Monarchie zu lösen, in einem Land, in dem es sie seit mehr als einhundert Jahren nicht mehr gibt? Sehr schwer.

*Otto von Guericke wurde spät geadelt (1662), und seine bedeutendsten Arbeiten stammen aus der Zeit vor der Erhebung in den Adelsstand. Claire von Glümer war eine Radikale gegen die Monarchie.

Ausstellung

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Einfache Frage: Warum male ich nicht mehr?

Einfache Antwort: Computer.

Ende der Achtziger hatte ich schon eine ganze Weile Briefumschläge mit Aquarellfarben verziert und mit der Post an Freunde und Freundinnen verschickt. Ich wusste nicht, dass man das Mailart nennt, ich machte es einfach. Da kam der Gedanke auf: Wenn was bei der Post verloren ginge, das wär doch schade. Also kaufte ich richtiges Aquarellpapier und machte, was man mit Aquarellfarben eben nicht macht: gerade Linie statt wässriges Ineinanderfließen, Strich statt Hauch, Block statt Feld. Aber auch kombiniert mit Pastellkreide. Und mit Collage-Elementen. Manches misslang, und als ich 1993 endlich einen Computer hatte, wollte ich die Bilder besser am Bildschirm planen. Stattdessen begann ich, Bilder am Bildschirm zu machen, noch laienhafter und unverschreckter als bei den Aquarellbildern vorher, aber es war eine neue Zeit, und ich fand sie toll. Die Ideen zu absurden, am Bildschirm entstandenen Bilderbüchern kamen, aber ich hatte zunächst keine Kamera, sondern nur einen billigen Scanner. Das war auf Dauer doch zu einengend. Die erste Kamera: 2003.

Als ich um 2008 noch einmal versuchte, auf die Aquarellfarben zurückzugreifen, gelang gar nichts mehr. Es war vorbei. Ich hatte gemacht, was für mich mit meinen Mitteln zu machen war. Die Fotografie hatte den malerischen Impuls geschluckt und beanspruchte ihn nun ganz für sich.

Würde ich heute noch auf meine Art aquarellieren, wenn ich die eine Chance wahrgenommen hätte, die sich zu einer Ausstellung bot? Kann sein. Stattdessen gibt es nur eine winzige Dauerausstellung im Internet (Einzelbilder anklickbar):

Aqua

Symbolbild

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Hier oben gibt es Turmfalken. Zuerst war ich ungläubig, obwohl ich natürlich weiß, dass Turmfalken Kulturfolger sind, und wenn das kein Turm ist, in dem ich hier wohne, was ist es dann? Bald gab es keinen Zweifel mehr: der Schrei, der aufgefächerte Schwanz, Gefiederfarbe und -musterung. Vor ein paar Tagen dann ein Pärchen, das sich auf Höhe meines Stockwerks im Abendwind umkreiste. Man denkt auch manchmal, die Tauben und Krähen tippeln ein wenig nervöser auf dem Geländer der Terrasse herum, weil sie wissen, dass die Scharfschnäbel unterwegs sind. Wobei, für Krähen und Tauben sind Turmfalken keine Gefahr, lese ich. Vielleicht erinnern die Falken auch nur an die anderen Räuber, auf die man wirklich aufpassen muss. Ein Falkenfoto habe ich nicht, dafür sind sie zu schnell.

Schnell sind abends auch die Motorradjungs unten auf den Straßen. Schneller als die Polizei erlaubt. Sie drehen gern zwischen den höchsten Häusern der Innenstadt auf, weil dann ihre Motoren so schön an den Fassaden hochheulen und -knattern. Ich kann sie bei ihren kurzen Sprints beobachten, die ja nötig sind. Denn wofür hätte man sonst das viele Geld ausgegeben? Manche der Motoradjungs fahren bestimmt eine Suzuki Hayabusa. „Hayabusa“ heißt auf Japanisch „Wanderfalke“.

Vermutlich weiß die Marketingabteilung von Suzuki, dass Falken Papageienvögel sind. Aber bei einer so erfolgreichen Motorradmarke muss man das ja nicht an die große Glocke hängen.

Und von da gehen die Assoziationen zu Say Nothing von Flume und zu Under the Skin mit Scarlett Johansson. Das Gehirn ist ein flüchtiges Reh.

Wach sein

blinken

Kinetisch


Jetzt bist du wach.

Im Angriff brechen Blumen vor
aus deiner Stirn,
sie sind was Schönes.

Das wirkt wie traurig für die Welt sein,
nur frisch und vorzeigbar.

Die neue Sprache steigt
auf Riesenstelzen über Häuser,
in denen rote Lichter blinken.


Tonaufnahme aus dem 10. Stock: MP3

Alte Rose

Magde1931

Der Widerspruch macht sich sofort bemerkbar. Das Bild ist alt, verblichen, in weiten Teilen überbelichtet, dazu verstaubt und verkratzt. Ein Relikt. Aber die Schrifttypen, die das eigentliche Sujet sind, wirken in einigen Fällen erstaunlich modern. Aus der Zeit gefallen, und zwar nach vorne. Das Hotel Alte Rose könnte auch heute noch so beworben werden. Zum Stadttheaterbesuch fordert ein Schriftzug auf, den man eher in den Sechziger- und Siebzigerjahren sehen würde. Die konturierte Type bei den Marmeladen und Obstkonftüren sieht man wieder häufiger bei Barber-Shops, Bars und Ladengeschäften – vielleicht als Retro-Zitat, aber im Jahr 2025 stört sich niemand daran.

Das Bild stammt von 1931. Es hatte nur den seinerzeit aktuellen Stand der Reklame in Magdeburg zum Thema, trifft mich aber aus ganz anderen Gründen.

Wird man eines Tages genauso auf die Berliner Republik zurückschauen wie auf die Weimarer? Wird man sie als Vorlauf für eine weitere deutsche Tragödie sehen; ein Vorlauf, der nur länger dauerte? Als Versuch, der an sich selbst scheitern musste? Die Bundesrepublik meiner Jugend nahm eine ganz bestimmte, onkelhafte Haltung gegenüber der Weimarer Republik ein: Na, die waren halt noch nicht so weit. Wohingegen wir: Wenn schon nicht Krone der Schöpfung, dann doch gewiss ein guter Schritt in die richtige Richtung. Das war damals töricht. Die Blindheit von heute ist viel schlimmer.

Bildquelle: Stadtarchiv Magdeburg, abgedruckt in: "maramm Magdeburg, Reklame- und Ausstellungsstadt der Moderne", Bibliothek Forum Gestaltung 15, Magdeburg, 2016

Übungseinheit

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An den Gewässern bereitet sich der Frühling vor. Noch ein wenig bleich und zerfasert, ein wenig unentschlossen, unerfahren. Er übt. Eine kalte Nacht, und er verkühlt sich, lauert auf Schnee gar. Gibt es vielleicht doch ein Zurück für die Blüten, für die Farben, für das Wasser? Der Venustempel am Adolf-Mittag-See wartet auf die Liebespaare. Die Sandwege und unbefestigten Badestellen am Neustädter See I warten auf die Schwimmer, die sich über die Warnungen hinwegsetzen, auf ihre Chipstüten und Bluetoothboxen. Es wird alles wie immer sein, oder nicht? Die Reiher sind da, die Enten, die Möwen sogar, alle setzen sich für den Fortschritt ein. Jetzt darfst auch du den Frühling nicht allein lassen. Er braucht dich. Sonne und Wind kämpfen um dich, Meter für Meter. Die wärmere Mütze wäre jetzt gut, aber was nicht ist, ist nicht. Komm schon. Man zählt auf dich.

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Traumsprünge

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Das ist ein Traum von der Zukunft. Als Leser und Autor von Science Fiction kenne ich die Ästhetik gut, sie prägt ja das Genre seit vielen Jahrzehnten. Hier gibt es Selbstironie: Auch die Schafe werden mit Jet-Packs rumfliegen, na klar. Man könnte das Bild auch als eine Satire auf Typen wie Elon Musk begreifen, die mit Zuckerwattephantasien auf Dummenfang gegangen sind. Oder man sieht die Spuren der Zukunftsbegeisterung, die in Bildern wie diesem einmal wirksam war, ganz ernst und ironiefrei. Dem Exoskelett der Magdeburger Jungfrau fehlt auf jeden Fall ein Gelenk am rechten Knie. Auf die Art wäre es kein Sprungverstärker, sondern ein Sprungverhinderer. Respekt für die Künstler: Wie immer man ihr Werk liest, es verblüfft und erfreut. Wandbilder gibt es einige in Magdeburg. Das finde ich gut, Murals sind öffentliche Träume.

Auch die Geschichte ist manchmal ein Traum, ein Gerücht, eine Erzählung. Man kann nicht alles berichten, das wäre ja verrückt. Manche leiten aus dieser Tatsache die Idee ab, dass alle Erzählungen über die Vergangenheit gleichwertig sind. "Als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt." Auch das eine große Verrücktheit.

Im Dommuseum Ottonianum Magdeburg konzentriert man sich auf das Wirken von Otto dem Großen, der Magdeburg geliebt haben muss. Klostergründung, Dombau, das Erzbistum Magdeburg: seine Ideen, oder zumindest Ideen, die er für wichtig hielt. Er liegt im Dom begraben, zusammen mit seiner ersten Frau Editha. Er, der kommende sächsische König, hatte ihr 929 zur Hochzeit Magdeburg geschenkt. Es ist wichtig, an all das zu erinnern. Faszinierend, was über die ottonische Renaissance zu erfahren war, als man Edithas Sarkophag und seinen Inhalt untersucht hat. Das Museum erzählt genau und anschaulich von diesem Teil der Geschichte.

Mich interessieren auch die Menschen, die Ottos Macht und Reichtum erst ermöglicht haben. Magdeburger, die zusammen mit der Stadt, in der sie lebten, von einem 17-Jährigen verschenkt werden konnten. Ohne die Otto und Editha heute nur irgendwer wären, und nicht Leute, die man tausend Jahre nach ihrem Tod noch kennt. Vielleicht sahen die Magdeburger Untertanen von Otto und Editha der Steinskulptur ähnlich, die auf einem kleinen Ablageplatz hinter dem Dom zu finden ist: ein junges Gesicht mit neugierigem Ausdruck – große Augen, geöffneter Mund. Allerdings ist die Steinskulptur dem Stil nach eine sehr moderne Erzählung über die Vergangenheit.

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Einfliegen

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Die Nacht davor war schlaflos: Reisefieber.

Aber es hat auch was für sich, im Halbschlaf von Regionalzügen auf ein Ziel zugeschaukelt zu werden, sonnenbeschienene Landstadt für sonnenbeschienene Landstadt. Wenn man in guter Begleitung ist. Man nickt sich im Halbschlaf zu, weltverständig. Das macht sogar die sehr schweren Koffer ein wenig leichter.

Das Ziel ist eine Wohnung mitten in Magdeburg. Als die Schlüsselübergabe geschafft ist, als die Koffer ausgepackt sind, als der erste Tee getrunken ist. Ich habe noch nie in Ostdeutschland gewohnt. Und noch nie in einer Großstadt. Und noch nie so weit oben in einem so großen Haus.

Am Abend sagt sie: Auf dieser Etage brummt die Stadt leicht. Das Brummen ist aber auch ein Rauschen wie von Wind oder anderen verborgenen Maschinen.

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Fotos: C. Einsele