Durchblick
11/05/25 15:20

Da, wo ich herkomme, und da, wo ich eigentlich herkomme, gibt es viel Leerstand. Die Alten sterben, die Jungen ziehen weg. Amazon. Deindustrialisierung. China. Die Ausbildung von Orten mit viel Durchblick. Aber der Umgang mit der Randzone, dem Ich-weiß-ja-auch-nicht der Liminal Spaces, der Orte mit viel Durchblick ist im Osten anders, scheint mir.
Im Westen wurde zuerst mehr hübsch gemacht nach dem Krieg, und der Verfall setzte später ein. Dafür tut man dort oft so, als wären die Ruinen nur zeitweilig ungenutzt. Vor den privaten Bruchbuden steht dann ein Schild mit der Telefonnummer des Maklers und einmal im Jahr wird jemand von den Erben geschickt, um das Gras im Vorgarten zu mähen. In Holstein bleiben auch die alten Hotel- und Pensionsschilder noch stehen und hängen, selbst wenn das Reetdach schon durchgesackt ist. So, als käme da bald wieder was.
Manchmal spielt man dieses schamhafte Versteckspiel auch mit Industrieruinen. In den Nullerjahren war ich kurz Teil einer Kommission, die sich Gedanken darüber machte, was mit den aufgegebenen Industrieanlagen im Saarland geschehen könnte. Da, wo ich eigentlich herkomme. Bei einer der Sitzungen fragte ich einen anwesenden Staatssekretär, ob man nicht mit Ehrlichkeit anfangen sollte. Ob man den Saarländern nicht sagen sollte, dass die Jobs weg sind und nicht zurückkommen, egal, was man macht. Der Staatssekretär schüttelte nur stumm den Kopf. Danach war ich kein Teil der Kommission mehr. Die versuchte dann noch dies und jenes, bei einem Gesamtbudget von 200 Millionen Euro (was im Saarland eine Menge Geld ist), und um 2010 sackte die saarländische Bevölkerung unter die Millionengrenze. Alle Modelle projizieren, dass sich das auch nicht mehr groß ändert. Mit dem gleichen Effekt hätte man die 200 Millionen auch in die Saar werfen können.
Genghis (kurzer, englischsprachiger Artikel über die Völklinger Hütte)
Im Osten leben heute so viele Menschen wie 1905. Da entfallen die Maklernotizen und die Bald-kommt-der-Investor-Gerüchte. Nach der Wende wurde viel neu gemacht, sehr viel, aber die Verfallenheit direkt daneben bleibt roher ausgestellt, fällt krasser auf. Wer sollte sich auch darum kümmern, wenn die Bude eigentlich schon lange vor der Wende leer stand? Die rohe Leere erzeugt im Konflikt mit den schicken Neuigkeiten eine ganz bestimmte Spannung. Die städtebauliche Melancholie Ost ist schärfer, aufgereizter, ratloser als die städtebauliche Melancholie West.
Ich muss hier immer wieder an einen Text von Uwe Johnson denken: "Wenn Jerichow zum Westen gekommen wäre." Annett Gröschner hat 2014 diesen sehr schönen Text über Unterschiede sehr schön kommentiert, leider in der WELT.
Natürlich, natürlich: Man kann mir den rohen Durchblick neben den schicken Neuigkeiten auch im Westen zeigen. Und die Maklerschilder im Osten. Meine Wahrnehmung ist sicher davon geprägt, dass ich 37 Jahre in Schwaben gewohnt habe. Dort ist der Umgang mit Leerstand und Verfall noch einmal eigen. Und bei einem Besuch in Wolmirstedt fühlte ich mich doch recht ähnlich wie in Völklingen/Saar, das 1957 zum Westen kam.
Aber. Die städtebauliche Mauer existiert. Es gibt jetzt nur mehr Durchblick.
