Dann und dann

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Als Kindergartenkind lernte ich: Wolken sind Uhren. Sie ziehen dahin und nehmen die Zeit mit. Noch zwei Monate hier.

1967

Ich weiß nicht, warum mich dieses eine elektronische Musikstück so intensiv an meine Mutter denken lässt, an ihren Zustand. Vielleicht zeigen die schwebenden Synthesizer-Klänge zu einer Zeit zurück, als sie jung war. Als ich zur Welt kam. Aber von elektronischer Musik hat sie damals nichts mitbekommen. 1967, BRD, Saarland. Der unselige Kurt Georg Kiesinger ist Kanzler, während gesellschaftlich die Umbrüche in vollem Gang sind, die 1969 Willy Brandt an die Macht bringen werden. Im Saarland herrscht der ewige Ministerpräsident Franz Josef Röder (CDU), dessen Nazi-Verwicklungen 1960 nur einmal kurz aufgeblitzt waren und dann erst lange nach denen von Kiesinger thematisiert werden sollten. Am 7. August veröffentlichen Pink Floyd ihr Debutalbum The Piper at the Gates of Dawn. Im September 1967 ist der große Marsch schon in Vorbereitung, der am 21.10. zum Pentagon führt, des Vietnamkriegs wegen. Meine Mutter im ländlichen Saarland, mit ihrer jungen Ehe und ihren beiden Kindern. Auf dem Weg zu einem Berufsleben als Grundschullehrerin. Schwer katholisch. Ein bisschen Schlager, ein bisschen Klassik und Kirchenlieder. Keine elektronische Musik.

Sie erkennt mich am Telefon noch, aber ich muss ihr immer wieder von neuem erzählen, dass ich in Magdeburg bin, Stadtschreiber, ja, eine eigene Wohnung hat mir die Stadt auch zur Verfügung gestellt. Für sieben Monate, ja. Sie spricht von einer entfernten Tante, die aus der DDR stammte und zeitlebens nichts auf das andere Deutschland kommen ließ. Auch ihr Mann habe mir ihr darüber nicht sprechen können, sie sei nun einmal überzeugt gewesen. Meine Mutter fragt mich, wie die Menschen in der DDR jetzt so leben. Ich erkläre ihr, dass die DDR seit 35 Jahren nicht mehr existiert. „Ach so, ja.“ Zwei Sätze später ihre dringende Bitte, dass ich kein DDR-Schriftsteller werde. Ich kann ihr das guten Gewissens zusagen.

Dann erklärt sie, dass mein Vater bald kommt, um sie abzuholen. „Bestimmt“, bestätige ich. Er ist seit zwölf Jahren tot. Ich musste einsehen, dass es grausam wäre, sie immer wieder daran zu erinnern.

Dann ist sie müde und wir verabschieden uns.

[Das Blatt Periodisch aus meinem Adventskalender 2023 ist zu ästhetisch.]

Fastversteck

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Der Park ist so klein und verborgen, ich hielt ihn zuerst für eine Privatsache. Noch auf den Treppenstufen vom Fürstenwall herunter vermutete ich, gleich wieder zum Verlassen des Geländes aufgefordert zu werden. Was für ein seltsamer Ort. Ein bescheidenes Viereck, wie in den Boden der Stadt eingesunken, mit einer einzigen Sitzbank, ein paar Rosensträuchern, einem inaktiven Springbrunnen, einer massiven Eiche. Und einer Reihe von Nischen in der Fürstenwallmauer mit Statuen darin. Die alle kopflos sind. Fast eine surrealistische Installation. Ich wunderte mich, fotografierte herum. Währenddessen kamen andere Touristen, genauso unsicher wie ich, ob man hier sein durfte. Fantastisch.

Zunächst wollte ich nichts über den Miniaturpark wissen. Alles schwer historisch, war ja klar, bei diesem schwer historischen Umfeld, ansonsten: egal. Ich kam nur immer wieder, hoffte jedes Mal mehr, dass die Bank frei und der Park leer sein würden, zum Schreiben gut. Schien zu klappen. Dann der Schreck: Schon bei der Annäherung hörte ich Rufen und Gelächter. Ein Publikum, eine Bühne. Fremde in meinem Park! Mir blieb nur die Kamera. Ich ahmte einen Pressefotografen nach, bemühte mich um den Anschein von Routine, machte ein paar Fotos von Bühne und Publikum, überstieg nonchalant das Flatterband der Absperrung zum Fürstenwall.

Mein Park war entzaubert, ich musste jetzt mehr über ihn erfahren. Also bekam ich zu lesen: War gar kein Park. Sondern der Garten der Möllenvogtei. Und er fing auch seine Karriere nicht als Garten an, sondern als – Hafen. Ein zwangsweise 1377 von Bürgern der Stadt Magdeburg für den damaligen Erzbischof (Peter Jelito) erbauter Hafen, denn der wollte einen Privatzugang zur Elbe haben. Das erklärt wahrscheinlich auch die abgesunkene Lage des Geländes. In seinem Westen: das einzige noch erhaltene Stadttor Magdeburgs, von 1493 oder 1495. 1520 schon war der Hafen ein Sumpf, 1632 von der Stadtmauer umschlossen, keine Verbindung zur Elbe mehr. In unmittelbarer Nähe auch zwei Türme: Kiek in de Köken und der Turm hinter der Ausfahrt der Möllenvogtei. Doch, die heißen beide wirklich so. Während der Hafen zwangsweise für Peter Jelito angelegt wurde, gingen die Türme dessen Nachfolger Günther II. von Schwarzburg so gegen den Strich, dass er sich von 1432-1435 teilweise bewaffnete Auseinandersetzungen mit der Stadtgesellschaft zum Thema leistete. Er scheint insgesamt recht militant gewesen zu sein.

Um den Möllenvogteigarten herum ist die Geschichte wie verknäult. Man nehme zum Beispiel Sebastian Langhans, Möllenvogt zumindest von 1518 bis 1538 (Stadtschreiber von Aschersleben war er vorher schon gewesen). Interessante Zeiten damals. 1523 beschlagnahmte Langhans in seiner Funktion als Stadtvogt ein Bild, das Martin Luther als "Junker Jörg" zeigte, möglicherweise gemalt von Lucas Cranach d. Ä. Am 2. Juli 1524 wurde mit einer Feuerwaffe auf ein Fenster seiner Vogtei geschossen (keine Verletzten).

Die kopflosen Statuen? Ein Sammelsurium aus der Zeit von 1500 bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie wurden aus dem Schutt gezogen, den die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs in Magdeburg hinterlassen hatten, und später hier aufgestellt. Sie erinnern mich an die DDR-Kunstwaisen in der Stadt.

Das Stück, das aufgeführt wurde, als ich fotografierte? Der eingebildete Kranke von Molière (1673).

Und so weiter.

Ich bin schon ein wenig stolz auf meinen Garten.

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Teehaus

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Mit dem Stoppelfeld-Express nach Blankenburg/Harz. Rotmilane tanzen über Äckern, die von Landmaschinen aufgewühlt werden.

Der Blankenburger Bahnhof begrüßt mich mit Nebengebäuden, die etwa so verfallen sind wie die in Quedlinburg. Das obligatorische Penis-Graffito ist von rustikaler Einfachheit. In dem noch genutzten Hauptgebäude befindet sich angeblich ein Bistro, aber das ist geschlossen.

Auf einer stetig ansteigenden Rampe geht es in die Stadt hinein, und zum Glück liegt an dieser Rampe eine Bäckerei, denn ich brauche Proviant. Ich steige auf, vorbei an dem Mahnmal für 40 Opfer des faschistischen Terrors (17 Tschechoslowaken und 23 Franzosen), sowie an der Südgrenze des skandinavischen Inlandeises im Quartär.

In den Barockgärten gibt es Schattenbänke, und das ist gut, denn dort kann ich meinen Proviant verzehren. Gestärkt stehe ich vor dem hiesigen Maximilian-Julius-Leopold-Denkmal. Maximilian Julius Leopold von Braunschweig-Wolfenbüttel starb am 27.4.1785 in Frankfurt /Oder. Angeblich, weil er während einer Flut Menschen vor dem Ertrinken retten wollte. Das ist eine seinerzeit gezielt lancierte Legende, aber der Prinz scheint trotzdem ein ungewöhnlicher Mann gewesen zu sein. Er ist jetzt schon seit 240 Jahren tot, und man erinnert immer noch aus den falschen Gründen an ihn. Eine der Frauenfiguren an dem Denkmal sieht zum Fürchten aus; anscheinend sind Reinigungs- oder Restaurierungsversuche in ihrem Gesicht fehlgeschlagen.

Weiter hinauf durch die Gartenanlagen. Mit einem gewissen Verdruss stelle ich wiederum fest, dass mir die Ästhetik des Klassizismus gefällt; dass ich etwas mit ihr anfangen kann. Ich muss an den Schlossgarten von Eutin denken, bei dem mir diese Verschiebung meines Geschmacks zum ersten Mal auffiel. Ganz sicher ein Alterungsphänomen. Das entzückende kleine Teehaus, das an genau der richtigen Stelle im Hang sitzt, sollte geöffnet sein, ist es aber nicht. Noch mehr Verdruss.

Aus Rache denke ich beim weiteren Aufstieg zum Großen Blankenburger Schloss: Wenn die Fürsten vor Gott knieten, knieten sie auf den Hälsen der Bauern. Gleich danach ein Aussichtspunkt, den auch Hans Christian Andersen schon gut fand, als er am 27.5.1831 hier vorbeikam. Der Schlosshof ist bis 16.00 Uhr geöffnet, und als ich vor dem Tor stehend auf die Uhr schaue, ist es 16.39 Uhr.

Beim Abstieg sehe ich andere Seiten der hübschen Stadt. Die historischen Straßen sind feingemacht, aber sie sind auch bedenklich leer, melancholisch still. Heute hat Blankenburg etwa 19000 Einwohner. 2010 waren es noch 22000.

Auf dem Rückweg aus dem Zugfenster schauend fällt mir auf, dass viele der abgeernteten Felder von Jäger-Hochsitzen bewacht werden. Als Reh müsstest du wissen, dass im Herbst dort der Tod sitzen kann. Aber was weißt du schon, du bist ja nur Wild.

Es war ein schöner Ausflug in den Spätsommer.

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Wespenzeit

Sie sind an meinem Glaskasten hier oben interessiert. Ich teile mein Frühstück mit ihnen, vertreibe sie aber, wenn sie zu frech werden. Eine Zeitschrift dient mir als Schläger beim Wespentennis. Die Rückhand erreicht langsam Weltranglisten-Niveau.

Vor dem Urlaubshaus in Schweden lag ein leeres Nest im handlangen Gras, grau, hühnereigroß. Ich bewunderte das federleichte Papier, ein Qualitätsprodukt aus abgenagten und zerkauten Holzresten. Innen war es gefaltet und gefältelt wie die Zeit selbst.

Leere Augen

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Symbolbild: Nicht mehr betriebenes, veraltetes Informationssystem im Bahnhof Neumünster

Die Bahn macht mal wieder rum. Es muss jetzt ganz dringend was auf Vordermann gebracht werden. Zack: Vollsperrung Hamburg-Berlin für neun Monate. Egal, was die Welt dazu sagt – die Bahn schafft sich ihre eigene Welt. Egal, was zum Beispiel der ehemalige Chef der Schweizer Bahnen dazu sagt (ab 9:40): Rücksicht auf Verluste? Hammwanichkennwanich. Vor-der-mann! Aber wenn die Bahnstrecke zwischen den beiden größten deutschen Städten gesperrt wird, betrifft das eine Menge andere Strecken auch. Und so geht es von Lübeck nicht mehr über Lüneburg und Uelzen nach Magdeburg. Sondern ich werde über Bad Kleinen und Berlin in die andere schöne Stadt an der Elbe geschaukelt. Zusammen mit vielen, vielen anderen müden, verschwitzten und verärgerten Menschen. Zu der Schaukelstrecke kommen natürlich die üblichen Verspätungen und die kaputten Klos noch dazu, und so viele Leiber auf einem Haufen bekäme eine Zug-Klimaanlage auch dann nicht gekühlt, wenn sie funktionieren würde. Die Strapaze leert die Augen der Reisenden. Als ich in Magdeburg aus dem Zug krieche, bin ich heilfroh, überhaupt angekommen zu sein.

Schwerin, die Hauptstadt eines deutschen Bundeslands, wird während der Streckensperrung komplett vom Fernverkehr abgehängt sein.

Die beste deutsche Mobilitätsidee der letzten Jahrzehnte ist das sogenannte Deutschlandticket. Natürlich wird es ständig infrage gestellt, wie könnte es anders sein?

Nach der letzten Überarbeitung meines Buchs Das geflügelte Rad – Über die Vernichtung der Eisenbahn (2015) habe ich eigentlich die Hoffnung für die Bahn aufgegeben. Das ändert aber nichts daran, dass ich auf sie angewiesen bin. Wie viele, viele andere Menschen auch.

Ich komme also mit Mühe in Magdeburg an. In der zu warmen Nacht stehen die Fenster auf Kipp, und ich höre die Güterzüge durch den Bahnhof rollen. Am nächsten Tag lasse ich mich ausgiebig von den Strassenbahnen der MVB durch die Stadt fahren. Das Straßenbahnnetz in Magdeburg ist beileibe nicht fehlerlos, aber ich rolle an diesem Tag so gut durch die spätsommerlich besonnte Stadt. Man kann ein lokales Netz nicht mit dem der DB vergleichen; Äpfel und Birnen etc. Man kann sich was wünschen, auch wenn es nichts hilft.

Die Einheit Deutschlands wird gerne beschworen. Was man beschwört, ist nicht da. Dass Einheit und innerdeutsche Mobilität miteinander in starker Wechselwirkung stehen, ist ein unfassbar komplexer Gedanke.

Album II

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Im Album II sind Bilder versammelt, die ich von Ende Mai bis Ende Juli veröffentlicht habe. Nicht alle stammen aus Magdeburg; es gibt auch welche aus Halberstadt, Tangermünde, Schönebeck/Elbe, Tangerhütte, Dessau- Rosslau, Gommern und Halle/Salle.

S. auch Album I

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Es gibt verschiedene Wege, mich in einen Zustand der wohltuenden Somnambulenz zu versetzen. Bahnfahren. Bootfahren. Und das Schwimmen in freundlichen, ungefährlichen Seen. Vor allem, wenn die in Schweden liegen.


Schwimmen, wenn man auch stehen könnte

Wasser redet mir ein:
Hallo, kleine Maschine.

Glitzert die Sonn auf den Booten,
dann glitzert sie auch auf dir.

Der Hahn schreit mir ein Loch in den Spiegel,
du musst es einmal umkreisen.

Beim Tauchen bist du beschützt
vor dem Wind, der mich immer auflecken will.

Sei nicht zu schwach und zu mächtig.
Ich trinke auf dich, dass du wiederkommst.

*

Tropfenhaut

Die Eisvögel ziehen mir ein Netz
übern See, aus Fäden
leuchtend blau.

Schwalben passieren es mühelos.
Doch ich bin gefangen,
schwer wie ein Mensch.

Wo das tote Gestänge
die Binsen überragt,
wird das Wasser wärmer.

Da will ich warten,
bis es dunkelt.

[MP3]

Tagesausflug

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Dass mich die Verschiedenartigkeit der Städte, Kleinstädte und Dörfer so überrascht, kann ja nur bedeuten, dass ich vorher ein peinlich einförmiges Bild von Sachsen-Anhalt mit mir herumtrug. Von der Ex-DDR. Vom Osten.

Das anscheinend gut eingepegelte Gommern. Die einsame Hauptstraße von Wolmirstedt. Burg, das ohne Ausländer eine Geisterstadt wäre. Tangerhütte, deindustrialisiert und ratlos, ähnlich wie Schönebeck. Tangermünde, ein Schmuckstück mit Yachthafen und frühneuzeitlicher Backstein-Waterkant wie aus dem Bilderbuch: Touristen, wir warten auf euch. Dessau: Hohe Weltkultur-pro-Einwohner-Rate, und die DDR-Architektur lebt. Thale: Germanen-Sozialismus plus Hexentanzplatz. Halberstadt: ein Dom so groß wie der in Magdeburg, und ganze Platten-Wohnblöcke in unmittelbarer Nähe des modernen Bahnhofs, aufgegeben, leerfenstrig. Quedlinburg: History, baby.

Verlassenheit als Gemeinsamkeit. Oder die multiplen Ost-Verlassenheiten. Sie erinnern mich an die saarländischen Verlassenheiten. Da, wo ich weg bin. Und doch: klare Unterschiede.

Die Saarländer denken nur manchmal an ihre einstige industrielle Bedeutung. Daher konnte die Hütte in Völklingen ("Welt-Kul-Tur-Er-Be!") so ein Symbol werden. (Und nicht aus den denkbaren anderen Gründen). Ansonsten schwimmen die Saarländer mit, wurschteln sich durch, ei jå. Im Osten stehen sich nicht nur Verfall und Neubau härter gegenüber. Was hier den anhaltenden Schmerz über den Verlust der eigenen Position in der Welt lindern soll: verbittertes Identitätsgebastel, Groll auf die anderen, ein immerwährender Verdacht, verraten worden zu sein. Es kann bis in die kleinsten sozialen Interaktionen gehen. Die misstrauischen Seitenblicke von Männern um die 60. The German stare. Wer lächelt, ist verdächtig, wer fotografiert, noch mehr. "Haben Sie mich gerade fotografiert?" (Bahnhofsnähe Dessau) "Aber sie fotografieren doch nicht uns?" (Brücke über die Jonitzer Mulde) "Aha. Der Mann mit der Praktica." (Schönebeck, Elbe) Die Fußballaufkleber, mit denen sich irgendwelche Fans als Schild und Schwert des 1. FC Magdeburg zelebrieren. Hammer und Zirkel als Versatzstück eines neu etablierten Ostdeutschtums. Und wie kam das, wenn der Osten angeblich eine Erfindung des Westens ist? Die blutjungen Glatzen in Magdeburg. Die gut begründbare Vermutung, dass die Rechte hier gar nichts machen muss, weil so viele eh schon denken, wie es ihr gefällt.

Verraten von wem? Vom Kapitalismus? Vom Westen? Von der Geschichte, der Welt, der EU? Wer hat euch verraten – die Sozialdemokraten? Gorbatschow? Eure Eltern? Die Weltverschwörung der Verräter? Es scheint so diffus und egal zu sein, dass die Bitterkeit mittlerweile erblich wurde.

Und es gibt natürlich auch all das andere. Die Freundlichkeit im Alltag. Die Bahnsteig-Aufsicht, die einen ausländischen Touristen unter ihre Fittiche nimmt: "Kommse ma mit, das iss ja keine Fahrkarte, die Sie da ham!" (Magdeburg) Das ehrliche Bedauern des Arbeiters, der zu seinem schwarzen Kollegen sagt: "Ich hätt dir gern geholfen, aber leider gibt's hier keinen Fahrkartenautomaten mehr!" (Tangerhütte) Die tollen Orte, die kleinen Überraschungen, der Humor.

All das gibt es. Alles existiert parallel.

[Wenn man vom Wendeschock spricht, darf man nicht vergessen, dass dieser Schock die Nachbeben von 1945 komplementiert, verstärkt, um neue Facetten bereichert hat. Der Deutsche ist generell gern von der Realität schockiert. Und da kommt noch was, aber gewaltig: Der Kapitalismus möchte nicht so recht an die Klimakatastrophe glauben, und schon gar nicht an das Verursacherprinzip. Das ist aber der Klimakatastrophe egal.

Ein Aspekt totalitärer Sozialkonstrukte ist ja: Im Abriss treffen die Trümmer alle, auch die Gegner der Konstrukte. Wie totalitär der Kapitalismus war, wird sich auf furchtbare Weise zeigen, wenn er an sich selbst scheitert.]

talk
uebergang
bude
sway
fort

kettenglied

saeulen
meeting
walk
erdbeermond

Ein Teil des Ganzen

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In ein Gespräch geraten. In Ostdeutschland. Mit zwei älteren Männern. Einer Ost, der andere West. Zuerst geht es um ein an sich belangloses Stück DDR-Kunst, von dem der Ostdeutsche berichtet, es sei zu Unrecht als sexistisch gebrandmarkt worden. Dann springt er unvermittelt zu der Beobachtung, dass die Zeitungen heutzutage voller Fehler seien. „Wie man richtig Deutsch spricht, wie man richtig Deutsch schreibt, das wird gar nicht mehr gelehrt!“ Ich bin verwirrt und werfe ein, dass das jetzt aber nichts mit dem Sexismus zu tun hat? „Neinein!“ Er beschreibt einen großen Kreis mit den Armen. „Aber es gehört … zu dem Ganzen!“ Der Westdeutsche nickt, was mich beunruhigt. „Und dann“, meint der Armruderer: „Das Gendern!“ „Was?“, denke ich, aber der Kopfnicker ruft nickend aus: „Ich meine manchmal, wir leben in einem einzigen Umerziehungslager!“ „Daaaaah!“, sagt der Armruderer. „Daaaaaah! Muss ich Ihnen aber völlig recht geben!“ Wir stehen zu dritt ganz unbehelligt herum, kein Stacheldraht, keine Wachen nirgends. Der Armruderer möchte mir noch weiterhin die Lage verklaren, aber ich bin bereits auf der Flucht. Einheit als Wahn, Einheit im Wahn.