Terrazzo
14/09/25 19:49

Von Magdeburg nach Berlin, das muss auch gehen. Von der Großstadt in die noch größere Großstadt. Zack, in den RE1 rein. Zack, in Berlin sein. Bahnhof Zoo, U9, Leopoldplatz. Zack, bist du am Veranstaltungsort. Auf den Einlass warten und Leute sehen, die für den Kunstgenuss bereit sind wie du. Manche sind auch wie du. Andere verstehen & feiern die Mode. Aber alle angenehm bierfrei höflich. Die Luft auch nicht vollgeharzt mit Cannabis. Hier sind eher die Stillen als die Fans. Die Türen öffnen sich, und es ist die Trauerhalle eines ehemaligen Krematoriums. Ein Rundbau mit Kuppel und zwei Galerien; dort oben in den Wänden: leere Urnennischen. Die Toten sind schon 2001 ausgezogen. Keine Stühle. Kein einziger Stuhl. Hier wirst du stehen oder auf dem Boden hocken müssen. Strategisch suchst du eine Säule an der Wand aus, an der du lehnen kannst. Ob du für diesen Kunstgenuss nicht schon aus orthopädischen Gründen zu alt bist? Die Frage mit Entschlossenheit wegdrängen. Die Halle füllt und füllt sich. Alle suchen nach Stühlen, setzen sich dann auf den Boden und warten auf die Klangkunst. Der Meister hat Support mitgebracht, und die Frau aus Oregon spielt zuerst auf. Die Projektionen auf der Videowand wirken ein wenig ungelenk, die Musik ein wenig beliebig. Die Musikerin bemüht sich, aber ihr Auftritt dauert auch einfach zu lang, findest du. Andere denken anders, denn der Applaus ist am Ende nicht nur höflich. Pause. Die Leute machen es sich auf dem Boden bequem, benutzen ihre Jacken als Kopfkissen. Für Unerfahrene wie dich sieht es vielleicht nach ukrainischem Luftschutzbunker aus, aber die Stimmung ist doch sehr friedlich, gelöst, höflich. Du schaust auf die Uhr: Die letzte Verbindung nach Magdeburg darfst du nicht verpassen, sonst wird das eine unschöne Berliner Bahnhofsnacht. Nach einer Viertelstunde tritt der Altmeister auf. Kein Gruß, keine Ansprache. Sehr schnell weißt du wieder, warum du hergekommen bist. Im Gegensatz zum Vorprogramm ist diese Musik gebunden. Wo das Vorprogramm eine Reihe von Wörtern war, bekommst du jetzt Gedichte zu hören. Die Videoprojektionen und die Musik sprechen miteinander. Zwar werden sakrale Assoziationen von der Architektur und von dem einsamen Agieren des Musikers auf seinem elektronischen Altar erzwungen, aber der Altmeister muss sie weder ablehnen noch ihnen entgegenkommen. Er sagt nichts und beschwört nichts, was außerhalb seiner Musik liegt. Du schaust mit den anderen gebannt hin, hörst gebannt zu. Manchmal ist es ein wenig zu laut. Der Bass verrückt mit einem Pulsen die Luft im ganzen Raum. Aber das hält nicht an. In der Höflichkeit des Settings ist vieles möglich, direkt vor der Bühne tanzt sogar eine Frau zu der völlig untanzbaren Musik. Das geht, das ist kein Problem. Wieder ein schneller Blick auf die Uhr: Bald musst du gehen. Aber dann ist das Programm plötzlich beendet, denn der Musiker weiß, dass man auch gute Gedichte nicht zu lange vorlesen sollte. Er winkt zum Gruß und tritt ab. Die Menge fließt gelassen nach draußen. Und zack in die U9. Und zack Bahnhof Zoo. Und wieder in Magdeburg, zack. Auf dem stillen Vorplatz des Bahnhofs fragst du dich, wie das alles sein kann. Du wunderst dich über die Welt.
Loscil: Lake Fire (bandcamp | Apple | Spotify)