September 2025
Geführt
01/09/25 18:50

Eine Stadtführung bekommen, unvermutet. Zuerst sehe ich das AMO Kultur- und Kongresshaus. In der DDR hieß es offiziell Ernst-Thälmann-Kulturhaus, wurde 1951 als erster Magdeburger Kulturneubau nach dem Krieg eröffnet und sollte ein Beweis der Völkerfreundschaft zwischen dem sozialistischen Teil Deutschlands und der Sowjetunion sein. Der große Saal bietet fast 1700 Steh- und (je nach Bestuhlung) 700 Sitzplätze. Natürlich ist der große Saal umgeben von kleineren. Ein Riesending, auch für die Stadtgesellschaft. In der DDR-Zeit war das AMO das bestbesuchte Kulturzentrum Magdeburgs. Was hier alles stattfand, wer sich hier alles traf. Chruschtschow und Ulbricht, zum Beispiel. Der 1. FC Magdeburg wurde hier gegründet, am 22. Dezember 1965. Weil dieses Datum an Wichtigkeit alle anderen überragt, gibt es sogar eine Gedenktafel am Eingang. Heute: Landesparteitage und Esoterikmessen. Ich frage meine Stadtführerin, ob die Leute in der DDR-Zeit gerne zu den Veranstaltungen kamen. Teils, teils, sagt sie. Manchmal wurde man von den Industriebetrieben herbeordert, die das AMO als Kulturzentrum nutzten. Aber in den kleineren Räumlichkeiten fanden alle möglichen Neigungsgruppen Platz, von Briefmarkensammlern bis zu Literaturzirkeln. Eine Kultureinrichtung des Arbeiter- und Bauernstaats. Am Ende der DDR war das AMO dem Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann (SKET) zugeordnet. Das SKET existiert als SKET GmbH bis heute und beliefert unter anderem die Windenergieanlagenbauer von der Enercon.
Die Magdeburger basteln ihre Traditionen auch um das AMO herum. Man kann sagen, es ist eine Art vergegenständlichter Mythos. Wann immer jemand die Schließung der Institution andenkt, kriegt er Feuer. So wie 2019. "Jetzt wollen sie uns auch noch das AMO wegnehmen!", sei der Schlachtruf gewesen. Von Leuten, die seit 30 Jahren überhaupt nicht mehr im AMO gewesen waren. Sagt die Stadtführerin.
Wir kommen am Denkmal mit dem Riss vorbei. Es erinnert an die Magdeburger Widerstandskämpfer und -kämpferinnen, die im Nationalsozialismus ums Leben kamen. Der Riss war nicht immer in der Betonwand, aber ich finde ihn passend. Meine Begleitung erzählt, dass sie als Schülerin mit ihren Mitschülern vor dem Denkmal zu stehen hatte, um die immergleichen Reden von irgendwelchen Offiziellen zu hören. Auch im Winter. Letztlich war es diese sinnfreie Ritualisierung, die Orte wie dieses Denkmal in graue Zonen der Gleichgültigkeit verwandelte, in Stellen, die man mied. Der Erinnerung an die 54 ermordeten Widerstandskämpfer hat es nicht geholfen. Dem Sozialismus auch nicht.
Man kann sich natürlich fragen, ob derart ritualisiertes Gedenken überhaupt je was geholfen hat.
Im Gesellschaftshaus am Klosterbergegarten war zu DDR-Zeiten das Pionierhaus. Also das Kulturhaus für die Kinder und Jugendlichen. Die Stadtführerin meint trocken, ihre Eltern hätten sie sonntags ganz gerne zu irgendwelchen Aufführungen oder Aktionen da hingeschickt. Einfach, um Ruhe zu haben. Der ehemalige Ballsaal in dem klassizistischen Repräsentationsbau sei aber immer ganz dunkel gewesen, dort habe sie sich gegruselt. Heute kein Thema mehr. Das Gesellschaftshaus ist schon lange wieder edel. Keine Esoterikmessen, sondern bürgerliche Gediegenheit, Kunst & Kultur. Das Telemann-Zentrum residiert. Als ich ein paar Tage später zu einem Konzert mit elektronischer Musik aufkreuze, erstrahlen die Kronleuchter im Konzertsaal und später erstrahlt die ganze Fassade des sogenannten Schinkelbaus. Der nicht von Schinkel ist, aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Am Schluss: Die Rayonhäuser. Magdeburg war Festungsstadt. Als Napoleon 1806 kampflos eingeritten war, wollte er ein freies Schussfeld um die Festungsanlagen herum, und ließ erstmal alles abräumen, was den freien Schuss aus der Festung heraus behinderte. Dann war Napoleon Geschichte, aber seine militärische Logik nicht. Die zurückgekehrten Preußen bestimmten bereits 1828, dass Neubauten in gewissen Gebieten außerhalb der Festung (den Rayons) nur erlaubt waren, wenn die Häuser schnell geräumt und abgebrochen werden konnten (in 24 Stunden!) – und die Keller mussten groß genug sein, um das gesamte Material des Hauses aufnehmen zu können. Es entstand eine besondere Bauweise, die den Anforderungen des freien Schießens Rechnung trug. Da wurde nicht gemauert, verschraubt oder gar gegossen, sondern vorgefertigte Bauteile wurden ineinandergesteckt und mit Zapfen verbunden. Die Häuser sollten nicht unbedingt lange halten, aber über 40 davon existieren heute noch in Magdeburg. Es gab (und gibt) auch welche im sogenannten griechischen Stil (s.unten). Richtig durchgetestet wurde das schnelle Abräumen nie. Genausowenig wie die über Jahrhunderte gepflegten und erweiterten Festungsanlagen selbst.
Eine kurze Stadtführung bekommen.


