Granulare Materie
30/07/25 15:08

In Halberstadt muss ich an Dessau denken. Beide Städte, obwohl unterschiedlich groß, sind in sich selbst zersiedelt. Mit zu viel Platz für zu wenige Menschen. Dessau ist weltberühmt in Kunst und Kultur ("Bauhaus, yeah, Bauhaus!"), aber es wirkt trotzdem leergefegt. Halberstadt hat mehr Fachwerk und eine Kirche, in der ein sehr langes Musikstück aufgeführt wird: Organ²/ASLSP von John Cage. Seit 2001 gehört Sankt-Buchardi der Orgel, die speziell für das Stück angefertigt wurde, und das soll bis zum 4. September 2640 so bleiben. Man kann jetzt schon Eintrittskarten für den Ausklang kaufen.
In der Kirche ist alles ganz nüchtern und so unreligiös wie möglich. Der Boden – großflächig mit dunkelgrauem Granulat ausgelegt, auch dort, wo die überraschend kleine Orgel steht. Das passt zu den abgeschabten Wänden, den pockennarbigen Pfeilern, zu der gesamten Atmosphäre von klug gemanagtem Verfall, die in dem Gebäude herrscht. Es geht sich auch gut auf dem Boden; weder Hall, noch Geknirsche. Die Musik, die nicht einmal von Cage selbst als solche verstanden wurde, wird nicht gestört. Ich laufe herum, will wissen, wie sich der Klang ändert, je nachdem, wo ich mich befinde. Das Neigen und Drehen meines Kopfes verändert den Sound viel stärker. Ich höre zu, ich höre nicht zu. Ich zeichne eine Minute von 639 Jahren auf, und das faszinierende Basswummern kommt durch.
Die Aufsicht steht hinter ihrem Infotisch im Eingangsbereich und gibt freimütig zu, dass sie von Musik, Musiktheorie und Musikgeschichte keine Ahnung hat; sie ist halt nur gern an diesem Ort. Ich frage nach, wie die Besucher sonst reagieren. "Manche", sagt sie, "halten den Klang nicht aus. Die kommen nur bis hierher zu mir und drehen dann wieder um." Ob es auch Leute gibt, die verärgert sind, weil sie den Sinn nicht sehen? "Richtig verärgert nicht. Einer ist mal wütend rausgestapft und meinte, dass das doch alles Quatsch sei." Musiker, die sich die ausliegende Partitur ansehen und dann glauben, dass die Orgel falsch spielt – das kommt auch vor, sagt sie. Wir sind uns gleich einig, dass die Kirche auf keinen Fall "richtig" renoviert werden sollte, wie andere Besucher es sich wünschen. Die Aufsicht fragt mich, ob ich die kleinen Steintürmchen fotografiert habe, die an verschiedenen Stellen aufgeschichtet wurden. Ich bejahe. "Hab noch nie jemand gesehen, der das gemacht hat", ruft sie begeistert aus. "Noch nie!" – Brav trage ich mich in das Besucherbuch ein. Was für ein wunderbarer Ort. Ich verlasse ihn belustigt und beeindruckt.

