October 2025
Ich packe meinen Koffer
30/10/25 22:25

Foto: C. Einsele
Altglasentsorgung im Regen.
Letzte Entdeckungen: Ein rosafarbenes Café mit feinem Frühstück in Magdeburg-Stadtfeld. Die Herbstsonne scheint in die Straßenbahn zum Herrenkrugpark. Beine vertreten ist wichtig. Wohnungsübergabe: Man befindet, dass ich meiner Unterkunft nicht geschadet habe und entlässt mich wohlwollend. Dann ruhig bleiben im Schienenersatzverkehr; hilft ja nichts.
Daheim muss ich mich schon wieder eingewöhnen. Erspüren, was ist. Ins Muskelgedächtnis bringen, was wo in der Küche steht. Es waren sieben Monate.
Ich ging im Frühling hin, komme im Herbst zurück. Am Anfang war ich 57, am Ende bin ich 58. Vorher hatte ich keine Erfahrung mit dem Osten, jetzt ein bisschen mehr. Wegen meiner Zeit in dem anderen Land, das Deutschland ist.
Es war mir eine Ehre, Magdeburg.

Foto: C. Einsele
Album III
16/10/25 13:17

Album III bringt Aufnahmen, die von Juli bis Oktober entstanden sind. Wiederum nicht alles aus Magdeburg; es gibt auch Material aus Halle (Saale), Berlin, Schönebeck, Sangerhausen, Blankenburg und Leipzig. Auch die neun ersten Fotos aus meiner Onlinegalerie Fun at the fun fair stammen aus Magdeburg, nämlich von der Magdeburger Herbstmesse und der Magdeburger Frühjahrsmesse. S. auch Shining city on a hill.
Album II
Album I
Die Welt der Dinge
11/10/25 18:44

Die wunderbaren Bilder von Philipp Wewerka im Forum Gestaltung, Magdeburg. Dieses Jahr ist er 60 geworden. Seit seiner Kindheit malt er Blumen, Schiffe, Flugzeuge. Auch rein Abstraktes. Wachstift, Filzstift, Bleistift, Papier. Natürlich kann man seine Kunst als "art brut", "outsider art" und so weiter klassifizieren. Man kann alle möglichen Maßstäbe an an sie anlegen. Aber es zwingt einen ja niemand dazu.
Mir war etwas ganz anderes wichtig, als ich durch die Ausstellung ging. Ich fühlte mich ähnlich wie ein paar Tage vorher, bei meinem gelungenen Besuch auf dem Rummel. Zusammen mit diesen Bildern war ich auf gute Weise in der Welt der Dinge.
Ein Wort zum Magdeburger Forum Gestaltung. Was Norbert Pohlmann, sein Team und die anderen Beteiligten hier leisten, ist phantastisch. Es geht weit über das Wewerka-Archiv hinaus, hat historische, kunsthistorische und eminent politische Implikationen. Es ist wichtig für Magdeburg, auch wenn das der Stadtgesellschaft nicht immer klar zu sein scheint.
Seltenland - Philipp Wewerka und Gäste, 10.10.25 - 08.02.26
[Hinweis: Die Bildrechte an den hier gezeigten Arbeiten von P. Wewerka liegen beim Wewerka-Archiv.]




Halbsee
09/10/25 18:46

Am Biederitzer See.
Der jetzt gar nicht so richtig ein See ist, sondern eher ein Teil der Ehle.
Hagebutten, Ufergestrüpp, Pferdeäpfel. Die Büsche sind noch blickdicht, aber hier und da gibt es eine Lücke, und man kann die Vehikel der Dauercamper auf der anderen Seite sehen. Oder einen Fasan, der hektisch über die Binsen quietscht. Es geht sich gut, der Wettervorhersage zum Trotz. Disteln, graufette Wolken, kleine Pfützen, abgeerntete Felder, auf denen die Reiher stehen wie Statuen.
Letztes Jahr war ich um diese Zeit an der Schlei, die ein Wunder ist. Im März war ich im südlichen Dänemark. Im August am schwedischen See. Jetzt bin ich hier. Noch. Manchmal sind meine Gefühle gar nicht so kompliziert. Ich bin traurig darüber, dass alles vorbeigeht.
Auf dem Rückweg zum Bahnhof ein seltenes Fundstück: Biederitz (8000 Einwohner), hat noch eine eigene Buchhandlung. Ich trete ein, schaue mich um. Der Buchhändler erzählt: Es kommen zwei Handvoll Stammkunden, er bewegt Antiquarisches übers Internet, und man kann Schulbücher bei ihm beziehen. Wie jedes andere bestellbare Buch auch. Ich kaufe eins, das schon im Laden steht.
Als ich am Kindergarten vorbeikomme, wird gerade ein Junge abgeholt. Aufgeregt berichtet er davon, dass eine Geschichte vorgelesen wurde. Eine Geschichte! "Und weißt du", ruft er aus, "wer den Hasen fangen wollte?" "Nein", lügt die Großmutter. "Der Fuchs!" Und dann bin ich eine Straßenecke weiter.
Weil ein Zug im Bahnhof Biederitz mal einfach so liegen geblieben ist, braucht die DRB (Deutsche Ruinenbahn) für die sechs Kilometer nach Magdeburg eine gute Stunde. Vielleicht hätte ich doch lieber an der Elbe entlang zurücklaufen sollen.

Shining city on a hill
07/10/25 15:40

Ohne Kamera weiß ich nicht, was ich auf dem Rummel soll.
Sicherheitsmann 1 meinte, meine Ausrüstung sei zu professionell. "Steht doch da auf dem Plakat: Kein professionelles Kamera- und Video-Equipment!" Und es stand auf dem Plakat. Ich wollte schon beleidigt abziehen, aber ich war auch trotzig: Dann wenigstens ein paar Schüsse von außerhalb des Zauns. So entdeckte ich den zweiten Eingang. Sicherheitsmann 2 verlangte nach meinem Presseausweis. Als er ihn gesehen hatte, fragte er über Funk: "Hab hier Presse ohne Anmeldung, darf die rein?" Ging ok. Gesetze, Verordnungen und Bestimmungen sind oft lockerer in den Gelenken, als man denkt.
Also kam ich ins Glitzerreich.
Rummelplätze sind für mich immer ein bisschen wie Science Fiction. Nicht nur die Raketen- und Raumschiffmalereien, sondern das Gemisch aus Träumen, Überzeichnung, Kitsch und Flucht. Und die sehr ernste Sehnsucht, die in all dem steckt. Der Wunsch nach einem Ende der Langeweile.
Aber man muss abends gehen, bei nicht ganz so gutem Wetter. Dann sind die Massen verschwunden, mit ihnen die Besoffenen. Die Los-Schreier haben ihr zu lautes Dauergelaber aufgegeben, es geht ja um nichts mehr. Die letzten Runden sind eingeläutet, die Zuckerwattemaschinen werden für den nächsten Tag gesäubert, einige Rolläden rasseln schon runter. Man muss auch mal Ruhe geben. Zu der Sehnsucht und dem Gefunkel kommt die Einsamkeit dazu. Wie am Ende des Sommers, wenn die Strände leerer werden. Realität und Budenzauber konkurrieren miteinander. Da ist mehr Wahrheit in all dem, mehr Doppelsinn. Nur noch wenige Jungmänner wollen ihren Freundinnen beweisen, dass sie die schlimmsten Attraktionen ertragen, ohne zu kotzen. Beim Autoscooter drehen vielleicht noch drei Wagen ihre Runden. Rummel ohne Idioten, aber noch nicht ganz verlassen. Meine Stunde, meine Zeit.
Als Kind war mir der Rummel zu viel. Jetzt weiß ich, wann ich kommen und gehen muss, um einpacken zu können, was ich als Kind gerne gehabt hätte. Mehr braucht mir das Konzept "Rummelplatz" nicht bieten.
[Die Fotostrecke enthält auch zwei Aufnahmen von der Frühjahrsmesse. Die Stimmung war die gleiche.]







Können Sie mich hören?
05/10/25 18:21

Foto: C. Einsele
Sie steht also an, meine Abschiedslesung in Magdeburg. Mittwoch 15.10., Forum Gestaltung, Brandenburger Str. 9-10, 20.00 Uhr, Eintritt 10/5 €.
Ich bringe meine Doppelnovelle "Der Auftrag" mit, die hier entstanden ist. Ich lese aber auch aus diesem Blog. Und ich spreche mit Norbert Pohlmann vom Forum Gestaltung.
Denkmal für einen Mantel
02/10/25 12:21

Schon bei meinem ersten Besuch in Magdeburg lernte ich, dass die Stadt auch ihren eigenen St. Martin hat.
Diese Geschichte kennt hier wirklich jeder.
Am 13.3.1969 war der Hauptmann der sowjetischen Luftstreitkräfte Igor Belikow zu einer medizinischen Routineuntersuchung in Magdeburg. Vor dem Termin ging er ein wenig spazieren und nahm bei der Wilhelm-Pieck-Allee 24 (vormals Stalinallee 24, heute Ernst-Reuter-Allee 24) eine Menschenansammlung wahr. Die Leute schauten angstvoll nach oben. Denn dort, im fünften Stock, stand ein kleines Mädchen auf dem Fenstersims; ungesichert, schutzlos, direkt am Abgrund. Belikow zog sich geistesgegenwärtig seinen Mantel aus und spannte ihn wie ein Sprungtuch. Es kam, wie es kommen musste: Das Mädchen fiel, 22 Meter tief. Ohne Belikow wäre ihr Tod sicher gewesen, aber Kathrin Lehmann landete in dem Mantel, überlebte unverletzt. Es folgten: Ver- und Bewunderung, Dankbarkeit, Verklärung, Propaganda. Belikow wurde vielfach ausgezeichnet, 1977 machte ihn die Stadt zum Ehrenbürger. 1981 dann ein Denkmal auf der gegenüberliegenden Straßenseite, geschaffen von Heinrich Apel.
Ein seltsames Denkmal. Es erzählt den Vorfall wie eine bebilderte Moritat, mit ein paar durchaus merkwürdigen Ingredienzen. Da ist zum Beispiel der geflügelte Fortuna-Engel, der über der Szene schwebt. Und die Mädchenfigur, die neben der Gedenkstele steht, den Betrachter offenen Munds anschaut und auf die bronzene Moritat mit dem Zeigefinger hinweist. Als wolle sie sagen: Wow. In ihrem linken Arm ein Blumenstrauß (anscheinend Tulpen), der so, wie er abgebildet ist, in der Realität schon längst zu Boden gefallen sein müsste. Es ist ein Blumenstrauß, der die Gravitation nicht kennt. Und auf der Rückseite der Stele gibt es noch einmal ein eigenes Bronzerelief für den Soldatenmantel. Das Denkmal ist eine der Kunstwaisen, die die DDR in Magdeburg hinterlassen hat.
2009 berichtete* die Berliner Zeitung zum vierzigsten Jubiläum des Zwischenfalls. Man machte Kathrin Lehmann ausfindig, die einen anderen Namen trug und keine Lust auf diese alten Geschichten mehr hatte. Die Zeitung zitierte die Propagandatiraden von damals. Belikow als Sowjetübermensch, der mit diesen phantastischen Reflexen natürlich auch in der Lage sei, alle Feinde der sozialistischen Menschengemeinschaft in Grund und Boden zu stampfen. Ich habe eine Zeit lang darüber nachgedacht, warum das Gerede selbst für richtig linientreue Propagandisten überzogen wirkt, überhitzt, fast wie Satire. Bis mir der Zusammenhang klar wurde. März 1969. Keine sieben Monate, nachdem der Prager Frühling zerstampft worden war. Da brauchte es schon noch ein bisschen Getöse zum Thema Völkerfreundschaft, und die Geschichte von der Magdeburger Rettungstat war ein idealer Aufhänger. Da konnte man ein Beispiel für positives, entschlossenes Handeln nicht einfach ein Beispiel für positives, entschlossenes Handeln bleiben lassen. Eine glückliche Wendung durfte nicht einfach eine glückliche Wendung sein.
Belikow starb 2015. Er blieb auch nach der Wende Ehrenbürger Magdeburgs.
[*Ich zitiere und verlinke die Berliner Zeitung nur ungern. Immerrhin wurde der besagte Artikel zehn Jahre vor der Übernahme der Zeitung durch das Ehepaar Friedrich veröffentlicht.]
