Gespensterfest

thebigemptyj

In Thüringen, einer Lesung wegen.

Auf der einstündigen Schienenersatzfahrt zähle ich zehn Neonazis. Sie haben die bis aufs Hirn runterrasierten Frisuren, sie tragen schwarze T-Shirts, auf denen sich weiße Baseballschläger kreuzen, oder es gibt Aufdrucke wie "White Power", Nordic dies, Walhalla das. Fred-Perry-Hemden in den Farbnoten schwarz, weiß und rot. Einmal ein Adler mit den typisch weit gespreizten Schwingen auf dem Dekolleté einer jungen Frau. Mal selbstzufrieden, mal alkoholisch, mal stumpf überlegen oder nur stumpf blicken sie umher. Laufen in den Bahnhöfen rum, hängen an Bushaltestellen ab. Keine Provokationen, kein Geschrei. Dafür sind sie zu selbstsicher, zu normal.

Der guseligste von ihnen fährt im Bus mit. Er verzichtet auf sichtbare Tattoos oder Abzeichen, aber die Hitlerjungenfrisur sitzt perfekt. Die Klamotten sind komplett in Braun- und Grüntönen gehalten, um sichtbar an die guten, alten Zeiten zu erinnern. Sogar der Rucksack wirkt stilecht imitiert, nur der Schlafsack ist aus einem Material, das es damals noch nicht gab, so ein schönes Material. Man kann sich den Hitlerjungen sehr gut vorstellen, wie er auf einem Panzer sitzend den Einsatz erwartet, 1944, in der Normandie. Kurz denke ich: Jetzt mal halblang. Du kannst ja wohl nicht von Frisur und Kleidung bruchlos auf die Gesinnung schließen. Dann wird der Hitlerjunge nach der Ankunft freudig von einer Naziglatze mit Sonnenbrille empfangen, die auf ihrem T-Shirt Nordic dies oder Walhalla das anpreist.

Die Lesung ist völlig ok, der Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen auch. Bei der Rückfahrt treffe ich auf eine Frau, die viel zu erzählen hat. Am Ende kenne ich ihr Alter, weiß, dass sie zwei lange Beziehungen mit türkischen Männern hatte, dass sie Christin ist, in Berlin in einem Haus voller Kurden, Syrer, Iraker wohnt, von denen sie sagt: Das sind wirkliche Nachbarn, die kümmern sich, die helfen einem, wenn's drauf ankommt. Einer von ihnen habe ihr nach dem Tod ihres Vaters einen richtig schönen Kreuzanhänger geschenkt, zum Trost. Dass sie ihrem Nachbarn dieses Geschenk wert gewesen sei, habe ihr Kraft gegeben in der schweren Zeit. Ich denke an die Bananen im Aufzug, berichte auch von mir, sie sagt dann: Huch, jetzt habe ich Ihnen ja mein ganzes Leben erzählt. Ich danke ihr dafür. Natürlich kann ich nicht wissen, wie sie sonst so ist, aber sie wirkt wie ein Gegenentwurf zu dem Hitlerjungen und seinesgleichen.

Ich bin dann froh, wieder in Magdeburg zu sein.