Inland, germano-sozialistisch
21/06/25 18:23

Internationale Solidarität, Emailwandbild von Willi Neubert (1970)
Fahrt zum Harzrand.
Die Bahnsteige sind renoviert, die kleinen Bahnhöfe sind aber fast alle Ruinen, zusammen mit der einst notwendigen Infrastruktur. Manchmal noch Wasserkräne für Dampflokomotiven, die typischen Rüssel fast ganz von Gebüsch verschluckt. Planmäßige Dampftraktion auf Normalspurstrecken gab es in der DDR bis 1988. Die Trümmer sind noch da. Im Bahnhofsgebäude von Ditfurt, dessen Dach noch nicht durchgesackt ist, existiert ein "Bibelstudio".
Immer gern mit einem scheinbar unendlichen Farbvorrat unterwegs sind die Fans des 1. FC Magdeburg. Weiß und blau, blau und weiß, für alle Zeit. Das geht bis weit ins Umland Magdeburgs. An einem verrotteten Backsteingebäude lese ich im Vorbeifahren: „Nur immer diese Lust auf Wahn“. Riesige Lettern, blau und weiß. Kann das stimmen? Hat das wirklich jemand da hingeschrieben?
In Quedlinburg ist selbst der Bahnhof gotisch. Ich renne mit anderen Fahrgästen hin und her, weil die Bahn die Hinweise zum Schienenersatzverkehr vergessen hat. Wir werden dann vom Schienenersatzbus nach Thale geschaukelt. Die Bahnstrecke ist gerade wegen Bauarbeiten gesperrt.
In Thale, das merke ich gleich, haben sie es mit den Hexen und den Germanen. Germanisch gebrandete Ferienwohnungen wechseln sich ab mit Hexenvermarktung. Einen "Mythenweg" gibt es, einen Hexentanzplatz, eine Walpurgishalle (1901 von Bernhard Sehring "im germanischen Stil" hingebaut). Ein Getränk namens "Geile Hexe" darf natürlich am Bahnhofskiosk schon nicht fehlen. Ich stelle mir vor, wie die Wikinger im Germanenhotel sitzen und sich mit Met vollaufen lassen, bis es wieder auf Raubzug geht.
Es gibt aber auch Erinnerungen an jüngere alte Zeiten. Ein privates DDR-Museum im sechsten Stock eines Möbelhauses, darauf musst du erstmal kommen. Die Macher sind darauf gekommen, weil sie nach der Wende im ehemaligen Verwaltungsgebäude des Eisen- und Hüttenwerkes Thale (EHW) das Möbelhaus aufmachten, und dann im sechsten Stock eine Art Zeitkapsel vorfanden. Alles noch wie damals. Sie betonen, dass es ihnen nicht um Ostalgie geht, sondern um Dokumentation. Das Museum ist chronologisch aufgebaut. Es erzählt in Möbeln und Gebrauchsgegenständen die Alltagsgeschichte der DDR, ausführliche Schrifttafeln an den Wänden ergänzen den zeitgeschichtlichen Kontext. Uniformen, Flaggen, Kinderspielzeug, Kosmetikartikel, Werkzeuge, Bücher, Plattenspieler, Computer - alles vorhanden. Bei den Kücheneinrichtungen denke ich mehrfach: Das hätte auch in der Küche meiner Großmutter stehen können. Hat es vielleicht sogar. Ich bin nicht allein bei meinem Streifzug. Familien, ältere Herren, ältere Paare wollen sich umschauen, darunter viele, die all das schon aus eigener Erfahrung kennen. Im DDR-Klassenzimmer nimmt eine Frau ein Buch in die Hand: Der Sozialismus, Deine Welt. Wir schauen uns an, sie ruft mit slawischem Akzent aus: "Das wollten sie uns in die Köpfe schlagen! Aber sie haben es nicht geschafft!" Später kauft sie am Ausgang neu produziertes, nachgemachtes DDR-Spielzeug. "Für die Kinder!" ruft sie der Frau hinter der Theke zu, und die nickt einsichtig.
Auf der Treppe nach unten denke ich: War das alles nur ein seltsames Spiel? Und dann denke ich: Nein, ganz und gar nicht.
Am Bahnhof nehme ich den falschen Schienenersatzbus zurück. Glücklicherweise, denn so werde ich weit länger am Harzrand entlanggeschaukelt als geplant. Neinstedt, Stecklenberg, Bad Suderode. Schwarzwald oder Schwäbische Alb? Nun ja, wo es einen Wald gibt in Deutschland, gibt es auch ein Hotel Waldesruh, ein Haus Waldesruh, eine Pension Waldesruh, auf jeden Fall viel Ruh. Aber natürlich ist es doch anders als in den Randzonen der Mittelgebirge (West). Nur kann ich beim bloßen Anblick nicht sagen, wie anders. Schmuckelemente an den Häusern? Bauweise? Ich weiß es nicht. Es ist anders.
Bei der Rückfahrt sehe ich, dass hier und da schon Heu gemacht wird. Auf manchen der großen Rundballen sitzen Greifvögel und beobachten die Beutesituation im unmittelbaren Nahfeld.
Später lerne ich, dass am 6. Juli 1967 auf der Bahnstrecke zwischen Magdeburg und Thale, und zwar bei Langenweddingen, der schwerste Bahnunfall der DDR-Geschichte stattfand. Beim Zusammenstoß eines Personenzugs mit einem Benzintanklaster kam es zu 94 Todesopfern. 12 von ihnen, die nicht identifiziert werden konnten, wurden in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Magdeburger Westfriedhof begraben. Wie ich bereits erfahren habe, gibt es dort viele Massengräber.




