Denkmal für einen Mantel
02/10/25 12:21

Schon bei meinem ersten Besuch in Magdeburg lernte ich, dass die Stadt auch ihren eigenen St. Martin hat.
Diese Geschichte kennt hier wirklich jeder.
Am 13.3.1969 war der Hauptmann der sowjetischen Luftstreitkräfte Igor Belikow zu einer medizinischen Routineuntersuchung in Magdeburg. Vor dem Termin ging er ein wenig spazieren und nahm bei der Wilhelm-Pieck-Allee 24 (vormals Stalinallee 24, heute Ernst-Reuter-Allee 24) eine Menschenansammlung wahr. Die Leute schauten angstvoll nach oben. Denn dort, im fünften Stock, stand ein kleines Mädchen auf dem Fenstersims; ungesichert, schutzlos, direkt am Abgrund. Belikow zog sich geistesgegenwärtig seinen Mantel aus und spannte ihn wie ein Sprungtuch. Es kam, wie es kommen musste: Das Mädchen fiel, 22 Meter tief. Ohne Belikow wäre ihr Tod sicher gewesen, aber Kathrin Lehmann landete in dem Mantel, überlebte unverletzt. Es folgten: Ver- und Bewunderung, Dankbarkeit, Verklärung, Propaganda. Belikow wurde vielfach ausgezeichnet, 1977 machte ihn die Stadt zum Ehrenbürger. 1981 dann ein Denkmal auf der gegenüberliegenden Straßenseite, geschaffen von Heinrich Apel.
Ein seltsames Denkmal. Es erzählt den Vorfall wie eine bebilderte Moritat, mit ein paar durchaus merkwürdigen Zutaten. Da ist zum Beispiel der geflügelte Fortuna-Engel, der über der Szene schwebt. Und die Mädchenfigur, die neben der Gedenkstele steht, den Betrachter offenen Munds anschaut und auf die bronzene Moritat mit dem Zeigefinger hinweist. Als wolle sie sagen: Wow. In ihrem linken Arm ein Blumenstrauß (anscheinend Tulpen), der so, wie er abgebildet ist, in der Realität schon längst zu Boden gefallen sein müsste. Es ist ein Blumenstrauß, der die Gravitation nicht kennt. Und auf der Rückseite der Stele gibt es noch einmal ein eigenes Bronzerelief für den Soldatenmantel. Das Denkmal ist eine der Kunstwaisen, die die DDR in Magdeburg hinterlassen hat.
2009 berichtete* die Berliner Zeitung zum vierzigsten Jubiläum des Zwischenfalls. Man machte Kathrin Lehmann ausfindig, die einen anderen Namen trug und keine Lust auf diese alten Geschichten mehr hatte. Die Zeitung zitierte die Propagandatiraden von damals. Belikow als Sowjetübermensch, der mit diesen phantastischen Reflexen natürlich auch in der Lage sei, alle Feinde der sozialistischen Menschengemeinschaft in Grund und Boden zu stampfen. Ich habe eine Zeit lang darüber nachgedacht, warum das Gerede selbst für richtig linientreue Propagandisten überzogen wirkt, überhitzt, fast wie Satire. Bis mir der Zusammenhang klar wurde. März 1969. Keine sieben Monate, nachdem der Prager Frühling zerstampft worden war. Da brauchte es schon noch ein bisschen Getöse zum Thema Völkerfreundschaft, und die Geschichte von der Magdeburger Rettungstat war ein idealer Aufhänger. Da konnte man ein Beispiel für positives, entschlossenes Handeln nicht einfach ein Beispiel für positives, entschlossenes Handeln bleiben lassen. Eine glückliche Wendung durfte nicht einfach eine glückliche Wendung sein.
Belikow starb 2015. Er blieb auch nach der Wende Ehrenbürger Magdeburgs.
[*Ich zitiere und verlinke die Berliner Zeitung nur ungern. Immerrhin wurde der besagte Artikel zehn Jahre vor der Übernahme der Zeitung durch das Ehepaar Friedrich veröffentlicht.]
