Tagesausflug

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Dass mich die Verschiedenartigkeit der Städte, Kleinstädte und Dörfer so überrascht, kann ja nur bedeuten, dass ich vorher ein peinlich einförmiges Bild von Sachsen-Anhalt mit mir herumtrug. Von der Ex-DDR. Vom Osten.

Das anscheinend gut eingepegelte Gommern. Die einsame Hauptstraße von Wolmirstedt. Burg, das ohne Ausländer eine Geisterstadt wäre. Tangerhütte, deindustrialisiert und ratlos, ähnlich wie Schönebeck. Tangermünde, ein Schmuckstück mit Yachthafen und frühneuzeitlicher Backstein-Waterkant wie aus dem Bilderbuch: Touristen, wir warten auf euch. Dessau: Weltkultur für wenige Einwohner, und die DDR-Architektur lebt. Thale: Germanen-Sozialismus plus Hexentanzplatz. Halberstadt: ein Dom so groß wie der in Magdeburg, und ganze Platten-Wohnblöcke in unmittelbarer Nähe des modernen Bahnhofs, aufgegeben, leerfenstrig. Quedlinburg: History, baby.

Verlassenheit als Gemeinsamkeit. Oder die multiplen Ost-Verlassenheiten. Sie erinnern mich an die saarländischen Verlassenheiten. Da, wo ich weg bin. Und doch: klare Unterschiede.

Die Saarländer denken nur manchmal an ihre einstige industrielle Bedeutung. Daher konnte die Hütte in Völklingen ("Welt-Kul-Tur-Er-Be!") so ein Symbol werden. (Und nicht aus den denkbaren anderen Gründen). Ansonsten schwimmen die Saarländer mit, wurschteln sich durch, ei jå. Im Osten stehen sich nicht nur Verfall und Neubau härter gegenüber. Was hier den anhaltenden Schmerz über den Verlust der eigenen Position in der Welt lindern soll: verbittertes Identitätsgebastel, Groll auf die anderen, ein immerwährender Verdacht, verraten worden zu sein. Es kann bis in die kleinsten sozialen Interaktionen gehen. Die misstrauischen Seitenblicke von Männern um die 60. The German stare. Wer lächelt, ist verdächtig, wer fotografiert, noch mehr. "Haben Sie mich gerade fotografiert?" (Bahnhofsnähe Dessau) "Aber sie fotografieren doch nicht uns?" (Brücke über die Jonitzer Mulde) "Aha. Der Mann mit der Praktica." (Schönebeck, Elbe) Die Fußballaufkleber, mit denen sich irgendwelche Fans als Schild und Schwert des 1. FC Magdeburg zelebrieren. Hammer und Zirkel als Versatzstück eines neu etablierten Ostdeutschtums. Und wie kam das, wenn der Osten angeblich eine Erfindung des Westens ist? Die blutjungen Glatzen in Magdeburg. Die gut begründbare Vermutung, dass die Rechte hier gar nichts machen muss, weil so viele eh schon denken, wie es ihr gefällt.

Verraten von wem? Vom Kapitalismus? Vom Westen? Von der Geschichte, der Welt, der EU? Wer hat euch verraten – die Sozialdemokraten? Gorbatschow? Eure Eltern? Die Weltverschwörung der Verräter? Es scheint so diffus und egal zu sein, dass die Bitterkeit mittlerweile erblich wurde.

Und es gibt natürlich auch all das andere. Die Freundlichkeit im Alltag. Die Bahnsteig-Aufsicht, die einen ausländischen Touristen unter ihre Fittiche nimmt: "Kommse ma mit, das iss ja keine Fahrkarte, die Sie da ham!" (Magdeburg) Das ehrliche Bedauern des Arbeiters, der zu seinem schwarzen Kollegen sagt: "Ich hätt dir gern geholfen, aber leider gibt's hier keinen Fahrkartenautomaten mehr!" (Tangerhütte) Die tollen Orte, die kleinen Überraschungen, der Humor.

All das gibt es. Alles existiert parallel.

[Wenn man vom Wendeschock spricht, darf man nicht vergessen, dass dieser Schock die Nachbeben von 1945 komplementiert, verstärkt, um neue Facetten bereichert hat. Der Deutsche ist generell gern von der Realität schockiert. Und da kommt noch was, aber gewaltig: Der Kapitalismus möchte nicht so recht an die Klimakatastrophe glauben, und schon gar nicht an das Verursacherprinzip. Das ist aber der Klimakatastrophe egal.

Ein Aspekt totalitärer Sozialkonstrukte ist ja: Im Abriss treffen die Trümmer alle, auch die Gegner der Konstrukte. Wie totalitär der Kapitalismus war, wird sich auf furchtbare Weise zeigen, wenn er an sich selbst scheitert.]

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